Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis (C)
am 21. Januar 2007

Evangelium: Lk. 4, 14 - 21
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Dieses Evangelium ist für mich immer wieder ein „Stachel im Fleisch",
so oft ich es im Alltag auch verdränge:

„Der Geist des Herrn ruht auf mir;
denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."

Im Lukasevangelium wird dieses prophetische Zitat des Jesaja
am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu
sozusagen als Überschrift und als Programm
Seinem ganzen Leben und Seiner Botschaft vorangestellt.
Das ist die Schlagzeile,
darum geht es,
das ist der Kern christlichen Glaubens!

Hätten Sie das gedacht?
Nehmen Sie an, ich hätte Sie eben, als sie die Kirche betraten,
nach Art eines Meinungserforschungsinstitutes gefragt:
Was ist das Entscheidende Ihres Glaubens?
Was ist das Wesentliche des Christentums?
Hätten Sie diesen Jesajatext zitiert?
Und dem vielleicht noch hinzugefügt:
Der hat sich in Jesus Christus erfüllt,
der hat sich heute erfüllt?

Vermutlich wären Sie nicht im entferntesten auf diese Idee gekommen.
Und das - obwohl alle synoptischen Evangelien
(Markus, Matthäus und Lukas)
diese Programmatik an den Anfang setzen
und damit das ganze Wirken Jesu zusammenfassen.

Bei Markus und Matthäus ist das deutlich kürzer
und prägnanter gefaßt:
„Die Zeit ist erfüllt,
das Reich Gottes ist nahe.
Kehrt um und glaubt an das Evangelium!"
Das Wort vom „Reich Gottes" meint nichts anderes als das,
was im Jesaja-Zitat zum Ausdruck gebracht ist.
Es geht in jedem Fall um eine revolutionäre Botschaft!
Und die Evangelisten waren mit Jesus zutiefst überzeugt,
daß diese „revolutionäre" Botschaft
„heute" in Erfüllung gegangen seien.

Und genau diese Überzeugung geht uns ab!
Schon früh haben Christen begonnen,
über alle möglichen dogmatischen Fragen zu spekulieren:
•    Über die Menschwerdung Gottes und wie die möglich sei;
•    über Tod und Auferstehung Jesu
    als „Erlösung" in einem abgehoben spiritualistischen Sinn;
•    über die Dreifaltigkeit Gottes;
•    über die göttliche und menschliche Natur Jesu;
•    über Glaube und Vernunft...

Das jedoch, was im Evangelium die „Schlagzeile" des Glaubens ist,
geriet mehr und mehr an den Rand;
darum durfte und darf sich gerade mal die Caritas kümmern.

Es hat immer mal wieder Versuche gegeben,
das Wesentliche des Evangeliums auch in den Mittelpunkt
des kirchlichen Glaubens zu rücken:
•    Franz von Assisi hat es versucht;
    sein Glaubensverständnis und seine Lebenspraxis wurden entschärft.
•    Noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts
    hat‘s die „Befreiungstheologie" versucht; 
      sie wurde in der Kirche argwöhnisch beobachtet,
    als „kommunistisch" gebrandmarkt
    und kirchlich mundtot gemacht.

Wie ist das möglich?
•    Die Armen kommen zum Mittagstisch,
    aber sie gehören nicht zur Gemeinde.
    Und die Frage ist, ob wir das überhaupt wollen.
•    Die Gefangenen haben es verdient, dort zu sitzen, wo sie sitzen.
    Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat.
    Aber dieser Rechtsstaat, der sich im Grundgesetz auf Gott beruft,
    schickt sogar mißliebige Migranten in den Abschiebeknast.
•    Die Blinden sind bedauerliche Menschen,
    aber wir stempeln sie wie alle Behinderten zu Randgruppen.
    Im Bistum Hildesheim gibt es einen Blindenseelsorger.
    Na also! Die Kirche kümmert sich doch drum!
•    Die Zerschlagenen?
    Wie eh und je Opfer von Gewalt!
    Was hat sich in zweitausend Jahren Christentum wirklich geändert?
    Die Gewalt grassiert rund um den Globus
    und nicht weniger gleich nebenan - in unseren Wohngebieten.
    Erst unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges
    hat die Kirche - mühsam genug -
    ein kritischeres Verhältnis zur Gewalt gewonnen.
    Gewaltlose Strategien, wie sie schon das Matthäusevangelium
    - übrigens als Entfaltung der „Schlagzeile" -
    in der Bergpredigt Jesu fordert,
    sind nicht Sache des „Mainstreams" - auch in der Kirche nicht.
    Pax Christi gehört fürwahr nicht zu den kirchlichen Institutionen
    in der „ersten Reihe".
•    Und ein „Gnadenjahr des Herrn"?
    Da sollte es eigentlich um Entschuldung gehen,
    um die Freilassung der Sklaven,
    um die Möglichkeit der Rückkehr aller in ihre Heimat
    und natürlich um angemessene Bedingungen dafür.
    •    Aber in der Tradition kirchlicher Moraltheologie
        stand und  steht immer noch
        das - zweifelsohne legitime - Recht auf Eigentum im Vordergrund.
        Und dementsprechend pochen „christliche" Parteien
        vor allem darauf.
        Ganz bescheiden gibt es erst neuerdings 
        in Kirche und Gesellschaft erste Ansätze
        von Schuldnerberatung,
        von privaten Konkursregelungen,
        von Entschuldungen der ärmsten Länder
        in der sogenannten Dritten Welt
    •    Daß es niemals in der Geschichte der Menschheit
        eine so große Zahl von Sklaven - auch und gerade Kindersklaven -
        gegeben hat wie heute,
        liest man allenfalls gelegentlich in einer versteckten Notiz.
    •    Und Rückkehr all der Flüchtlinge und Migranten in ihre Heimat?
        Wir schieben sie gerne ab!
        Aber interessieren uns die Bedingungen der Möglichkeit
        einer menschenwürdigen Heimkehr?

Alle soziologischen Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis,
daß die christlichen Kirchen in Deutschland
„Mittelstandskirchen" sind
und an andere Bevölkerungsgruppen gar nicht mehr herankommen. 
Kürzlich hat noch der Limburger Bischof Franz Kamphaus
diese zu starke Orientierung der Kirche
an der bürgerlichen Mittelschicht bemängelt.
Er meinte: "Arme - wie z.B. Hartz-IV-Empfänger -
sind allenfalls ein Fall für die Caritas".
Und das werde dem Jesus-Wort
"Den Armen das Evangelium verkündigen"
fürwahr nicht gerecht.
Es dürfe nicht sein, daß in der Kirche nur diejenigen
ihre Stimme erhöben und Gehör fänden,
die ohnehin den Ton angäben.

Gut gebrüllt Löwe!
Aber Franz Kamphaus geht in den Ruhestand.
Und er ist der Letzte von einigen wenigen
„Löwen-Bischöfen" dieser Art.
Ein Relikt jener Menschen in der deutschen Kirche,
die von der 68er-Bewegung mitgeprägt wurden.

Verstehen Sie, warum mir das heutige Evangelium
„wie ein Stachel im Fleisch" sitzt?
•    Wie sieht‘s denn hier bei uns in St.Michael aus?
    Seit 16 Jahren gibt‘s den „Mittagstisch St.Michael".
    Manchmal - wenn‘s gerade paßt - schmücken wir uns damit.
    Aber steht denn „St.Michael" wirklich dahinter?
•    Wir haben mal eine Wohnung frei gehalten
    für gelegentliche „Kirchenasyle"
    oder für die kurzfristige Unterbringung von Notleidenden.
    Lang, lang ist‘s her!
•    In Göttingen gibt es - leider auch nur am Rand -
    z.B. den Arbeitskreis „Armes Göttingen"
    oder den Arbeitskreis Asyl,
    oder den Arbeitskreis Frieden.
    In diesen Kreisen war St.Michael
    - genauer: einige wenige von uns -
    schon mal aktiv.
    Übrig geblieben ist davon nicht viel:
    Unser Diakon engagiert sich noch bei „Armes Göttingen".
    Gut so! Ist ja auch sein kirchlicher Auftrag.
    Damit sind wir selbst aus dem Schneider.

Ich habe keine Antwort auf all die Fragen,
die in dieser Predigt stecken.
Und eigentlich wollte ich ja auch gar nicht klagen.
Es gibt so viele Dinge in der Kirche und auch hier in St.Michael, die einfach Freude machen.
Auch das Evangelium des heutigen Tages
ist und bleibt eine frohmachende Botschaft,
allerdings auch eine immer auf‘s Neue herausfordernde Botschaft:

„Der Geist des Herrn ruht auf mir;
denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."

Frohmachend und zugleich herausfordernd
ist nicht zuletzt der Schlußsatz Jesu:
„Heute hat sich das Schriftwort,
das ihr eben gehört habt, erfüllt!"

Heute -
das gilt nicht nur für das „Heute" damals in Nazareth.
Heute -
das schließt erst recht eine Verschiebung
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag aus.
Heute -
das meint unser Heute im 21. Jahrhundert.
Heute -
das meint auch diesen Augenblick,
da wir hinhören auf das Evangelium
und da wir miteinander Gottesdienst feiern.

Amen.