Predigt zum 13. Sonntag im Jahreskreis (C)
am 27. Juni 2004
Zur Lesung: Gal. 5, 1. 13-18
„Zur Freiheit befreit" sind wir als Christen!
„Zur Freiheit befreit" - ausgerechnet wir!
Denken und sagen nicht unzählige Zeitgenossen:
Diese Christen - zumal die katholischen Christen -
sind gefangen in einer „mittelalterlichen" Enge,
müssen sich gängeln lassen durch überholte moralische Normen,
werden gegängelt und diszipliniert
durch autoritäre Strukturen?!

Ein erster Blick auf das, was Paulus meint,
wenn er sagt, wir seien „zur Freiheit befreit"
scheint sogar die Kritiker und Spötter zu bestätigen:
Paulus spricht von der „Rechtfertigung" des Menschen
durch den Glauben und durch Gottes Gnade.
Für Luther war das noch ein existentielles Thema -
aber für uns heute???

Die meisten Menschen unserer Zeit 
- weitgehend auch wir Christen - 
sind geprägt durch den Slogan:
„Ich bin o.k - Du bist o.k."
Sünde und Schuld - diese Begriffe sind aus unserem Wortschatz getilgt,
jedenfalls wenn es um uns selbst geht.

Schließlich möchten wir uns ja nicht vorhalten lassen,
wir ließen uns als Christen
gerade durch eine aufgeschwätzte „Sündenangst"
manipulieren und unserer Freiheit berauben.

Schauen wir aber etwas genauer hin:
Sind es nicht gerade Sünde und Schuld,
die Menschen regelrecht zu Sklaven machen?
Nehmen Sie als Beispiel die sündhafte Geschichte des Kolonialismus.
Die hat nicht nur unzählige Menschen bis auf den heutigen Tag
in Unfreiheit gestürzt,
die hat zum Beispiel auch einen wesentlichen Schuldanteil 
am aktuellen Terrorismus, 
der vielen von uns Angst einjagt,
der die weltweite Politik regelrecht beherrscht
und ihr jedwede konstruktive Gestaltungsfreiheit nimmt.

Der moderne Neoliberalismus in Wirtschaft und Politik
rühmt sich gar der Freiheit als Gestaltungsprinzip.
Ein Neoliberaler will nicht wahr haben, 
daß er letztendlich nur die Freiheit einiger weniger,
die Freiheit der Wohlhabenden im Auge hat.

Christlicher Soziallehre ging es einmal
um die Freiheit auch der Zukurzgekommenen.
Christliche und sozialdemokratische Sozialpolitik
haben jene Solidarität grundgelegt,
die auch kranken, alten, behinderten und benachteiligten Menschen
jenes Minimum an Freiheit verschaffte,
das auch ihnen erlaubte, menschenwürdig zu leben.
Der zunehmend um sich greifende und globale Neoliberalismus
zerstört mehr und mehr diese sozialen Freiheiten
und stürzt auch bei uns Menschen in die Unfreiheit
wirtschaftlicher Not.

Die jüngst erschienenen „sozialen Impulse"
einer Kommission der Deutschen Bischofskonferenz
macht erschreckend deutlich,
wie sehr auch wenigstens Teile der katholischen Soziallehre
vom Virus des Neoliberalismus infiziert sind
und das Solidaritätsprinzip als Grundlage wahrer Freiheit in Frage stellen.

Oder nehmen Sie als Beispiel jenen sündhaften Egoismus,
dem es um eine bindungslose, ja rücksichtlose „Selbstverwirklichung" geht.
In Niedersachsen wurden im Jahre 2003
insgesamt 21.138 Ehen geschieden - mehr als je zuvor.
Allein im Landkreis Göttingen waren
613 Kinder von diesen Scheidungen betroffen.
Um welche Freiheit geht‘s da eigentlich?
Und um wessen Freiheit?
Jedenfalls nicht um die Freiheit der Kinder!
• Denen wird jene familiäre Geborgenheit genommen,
in der allein sie sich zu freien und selbstbewußten 
Menschen entwicklen können.
• Von denen werden viele zu Schulversagern,
geraten auf die schiefe Bahn
und landen nicht selten in der Drogenszene.
• Fragen Sie mal unsere „Gäste" auf der Turmstraße,
wer von denen aus einem intakten Elternhaus stammt.
Sie werden nicht viele finden.
Sicher ist - die meisten unserer Gäste beim Mittagstisch 
leben fürwahr nicht in einer menschenwürdigen Freiheit!

Auf diesem Hintergrund sollten wir das Wort der Pauluslesung
noch einmal neu hören:
„Zur Freiheit hat Christus uns befreit!"
Verstehen Sie dieses Wort ruhig in jenem traditionellen Sinne,
in dem es als gottgeschenkte Freiheit
von unserer Verstrickung in Sünde und Schuld interpretiert wird.
Sie werden dann nachvollziehen können,
welches Maß an wirklicher Freiheit wir alle gewinnen könnten,
wenn wenigstens wir Christen das befreiende Geschenk Gottes
offenen und bereiten Herzens annehmen würden,
anstatt Sünde und Schuld aus unserem Bewußtsein zu verdrängen.

Schauen wir noch ein drittes Mal auf den Text:
„Ihr seid zur Freiheit berufen!" 
Weiter heißt es dann bei Paulus:
„Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch,
sondern dient einander in Liebe!"
All das, was wir in unserer Welt beobachten:
Ausbeutung, Unterdrückung, kapitalistisches Herrschaftstreben,
Egoismus, Gewinnmaximierung und rücksichtlose Selbstverwirklichung -
all das schafft menschenunwürdige Unfreiheit;
all das faßt Paulus zusammen unter dem Stichwort „Fleisch".

„Geist" dagegen ist für ihn gleichbedeutend mit „Geist der Liebe".
Liebe aber macht wirklich frei!
Augustinus zieht daraus die Konsequenz:
„Liebe - und tue, was du willst!"
Wer sich in Gottes Liebe fallen läßt
und ganz aus dieser geschenkten Liebe lebt,
der ist im wahrsten Sinne des Wortes „frei".
Die Liebe befreit von Egoismus und Schuld.
Die Liebe macht aber auch frei vom „Gesetz",
• d.h. vom menschen-gemachten 
und vielfach interessengeleiteten Gesetz,
das nach Paulus notwendig in die Sünde führt;
• d.h. aber auch von den sogenannten „Sachzwängen",
von den „Gesetzen des Marktes", von Herrschaftsgesetzen,
von ideologischen Gesetzen und von Gesetzen der Angst.

Das göttliche Gesetz dagegen läßt sich in einem Wort zusammenfassen:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"
Alle menschlichen Gesetze, 
auf die wir in dieser vorläufigen Welt sicherlich nicht ganz verzichten können,
müssen sich an diesem göttlichen Gesetz der Liebe orientieren.
Sonst machen sie unfrei.
Sie alle müssen sich auch von diesem göttlichen Gesetz her 
kritisch hinterfragen lassen.
Ich bin sicher, die meisten Gesetze auch der Bundesrepublik Deutschland
würden eine solche kritische Überprüfung nicht überstehen.

Allerdings würden bei einer solchen Überprüfung
auch viele Gesetze und Instruktionen der Kirche 
durch‘s Netz fallen.
Ich denke zum Beispiel an die jüngst erschienene Instruktion zur Liturgie.
Paulus würde sich vermutlich an den Kopf greifen,
wenn er feststellen würde, wie sehr die Kirche Jesu Christi
immer wieder einem unchristlichen Gesetzesdenken verfällt.

Manchmal frage ich mich:
Wie kommt das eigentlich? -
Wie ist das möglich,
obwohl doch diejenigen, die diese Gesetze machen,
durchaus guten Willens sind und sich als gute Christen verstehen.

Zwei Erklärungen fallen mir bei solchen Überlegungen ein:

• Einmal scheinen Verantwortliche in fast allen Bereichen dazu zu neigen,
alle Brunnen zuzudecken, wenn in einen Brunnen ein Kind hineingefallen ist.
Selbstverständlich gibt es auch in der Liturgie so etwas wie Mißbrauch.
Darüber muß man selbstverständlich reden
und möglicherweise müssen die Verantwortlichen auch eingreifen.
Ein allgemeingültiges Gesetz jedoch ist die falsche Reaktion
und entspricht nicht der gottgewollten Freiheit in Liebe.

• Eine zweite mögliche Erklärung:

Manche Politiker scheinen ja zu glauben, sie allein wüßten,
was dem Gemeinwohl diene,
und das Volk sei zu dumm und unaufgeklärt,
das Richtige für unsere so komplizierte Gesellschaft zu erkennen.

In vergleichbarer Weise nehmen möglicherweise Kirchenobere
nicht wirklich zur Kenntnis,
daß der Geist Gottes, der Geist der Liebe also,
der ganzen Kirche geschenkt ist
und in der Taufe eigentlich auch jedem Einzelnen.
Wer darauf nicht wirklich vertraut
und das Wirken des Geistes Gottes 
nur bei den Verantwortlichen vermutet,
wird natürlich versucht sein,
Regeln und Gesetze bis ins Detail vorzugeben.

Nun soll allerdings der nicht mit Steinen werfen,
der im Glashaus sitzt.
Laßt uns also zuerst einmal selbst 
die Lesung des heutigen Sonntags verinnerlichen.
Vielleicht sollten wir sie in dieser Woche immer wieder mal lesen
und sie uns sogar unter das Kopfkissen legen.
Vielleicht gelingt es uns dann nach und nach ein wenig mehr,
uns in all unserem Tun vom „Geist" leiten zu lassen -
vom Geist der Liebe und der Freiheit Gottes.

Amen.