Predigt zum 11. Sonntag im Jahreskreis (C)
am 13. Juni 2004
Zum Evangelium Lk. 7,36 - 8,1
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Wir haben gerade eine Erzählung des Evangliums gehört,
die den meisten von uns vertraut ist,
obwohl sie zum Sondergut des Lukas gehört
und also nur von ihm überliefert wird.

In dieser Geschichte geht es 
- wenn wir uns an der Auslegungstradition orientieren -
um das Thema „Schuld und Vergebung"
oder auch „Leistung und Gnade".
Beide Themen haben durchaus aktuelle Bezüge
zum einen in einer Umwelt, in der Menschen - auch Christen - 
das Wort „Sünde" nicht mehr kennen
und schon garnicht auf sich selbst beziehen,
zum anderen in einer ausgesprochenen Leistungsgesellschaft.

Dennoch möchte ich vor allem einige andere Aspekte 
dieses Evangeliums herausarbeiten,
die in meinen Augen nicht weniger wichtig und aktuell sind:

Zunächst einmal fällt mir auf,
daß diese Frau, von der das Evangelium erzählt,
namenlos ist.
Gewiß wird sie in der Auslegungstradition immer wieder
mit konkreten Namen in Verbindung gebracht -
mit Maria von Magdala etwa oder auch mit Maria von Betanien.
Aber deren Geschichten sind andere!
In meinen Augen geht kein Weg daran vorbei,
daß diese Frau bei Lukas ganz einfach keinen Namen hat.

Das ist nichts Außergewöhnliches:
Auch unsere Geschichtsbücher kennen nur 
die Namen der sogenannten „Großen" der Geschichte.
Die „kleinen Leute" bleiben namenlos.
Und heute ist es nicht anders:
Wenn ein „bedeutender" Mensch stirbt,
steht sein Name im Mittelpunkt der Berichterstattung -
in diesen Tagen etwa Ronald Reagan.
Wenn aber beispielsweise im Sudan Tausende krepieren,
dann ist allenfalls von Zahlen die Rede;
die konkreten Namen und Schicksale sind belanglos.
Wer interessiert sich schon für sie?

Das Evangelium sagt uns:
Einer interessiert sich sehr wohl für sie;
einer wendet sich ihnen liebevoll zu:
Dieser Jesus von Nazareth, der Christus.
Und der wendet sich ihnen zu - damals wie heute!

Das Evangelium nennt zwar nicht den Namen der Frau;
aber es bezeichnet sie als eine „Sünderin".
So nennt sie immer wieder auch die Auslegungstradition,
und die Einheitsübersetzung schreibt als Überschrift über ihre Geschichte:
„Die Begegnung Jesu mit der Sünderin".

Nun scheint mir wichtig zu sein,
daß diese Bezeichnung aus der Sicht des Simon 
und seiner Gäste aus dem Kreis der Pharisäer gewählt ist.
Jesus sieht diese Frau anders:
• Er erkennt das Übermaß ihrer Liebe.
• Er weiß, wie sehr sie unter ihrer Lebenssituation leidet -
 vermutlich unter den erniedrigenden Lebensbedingungen einer Prostituierten.
• Er weiß, wie sehr sie sich sehnt nach einem menschnwürdigen Leben.  
• Er weiß wohl auch um die erdrückende Armut und Not,
 die damals - wie heute! - so manche Frau in die Prostitution hineintreibt -
 um des reinen Überlebens willen.

Aus der Perspektive Jesu ist es ein Skandal,
daß heute unzählige Händler, Zwischenhändler und Zuhälter
sich hier bei uns an Mädchen und jungen Frauen aus dem Osten
eine „goldene Nase" verdienen,
weil es noch mehr Männer gibt
- viele von ihnen nennen sich sogar Christen -
die solche „Dienste" bezahlen.

Und ebenso sehr ist es ein Skandal,
daß Männer aus dem „christlichen Abendland"
einen regelrechten Sex-Touristmus in etliche Länder Asiens
möglich machen.
Der größere Skandal jedoch ist es,
daß ganze Familien dort keinen anderen Ausweg
aus ihrer grenzenlosen Not sehen,
als ihre Töchter zu „verkaufen".

Es ist schwer, das Skandalöse noch einmal zu steigern;
Aber vielleicht ist es wirklich der größte Skandal,
daß wir vor dieser Situation oftmals die Augen verschließen,
und daß unter Christen eine Schwester Lea Ackermann
eine ziemlich einsame Ruferin in der Wüste ist. 
Lea Ackermann dürfte eine der wenigen sein,
die sich im Blick auf das heutige Evangelium zu Recht Christin nennt.

Allerdings fällt in diesem Evangelium auch noch auf,
daß Jesus den Pharisäer Simon nicht verurteilt.
Er stellt die Richtigkeit seines Verhaltens nicht in Frage.
Für Jesus geht es jedoch um wesentlich mehr,
als um die äußere Gebotserfüllung,
die Simon praktiziert und von anderen erwartet:
Für Jesus ist das Entscheidende,
sich durch Gottes Liebe von innen her verwandeln zu lassen.
Genau diese Verwandlung erfährt Er
in der Begegnung mit jener namenlosen Frau.
Und diese Verwandlung vermißt er bei Simon -
und vielleicht auch bei dem ein oder anderen von uns ???

Worauf es ankommt - das hat Paulus ganz im Sinne Jesu
und der Geschichte des heutigen Evangeliums
im berühmten 13. Kapitel seines ersten Korintherbriefes
auf den Punkt gebracht:

„Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnis hätte,
hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.

Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte,
und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe,
hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.

Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig.
Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht,
sie bläht sich nicht auf."

Amen.