Predigt zum Göttinger Altstadtfest 
am 24./25. August 2001
Als Lesung liegen der Predigt Auszüge aus dem 21. Kapitel der Offenbarung des Johannes zu Grunde. Autor: P.Heribert Graab S.J.
Zum Göttinger Altstadtfest
und im Blick auf die Kommunalwahlen in 14 Tagen
lautet das Thema unseres Gottesdienstes:
„Visionen für Göttingen".

Die Bibel entfaltet solche Visionen für eine Stadt
am Bild der „Stadt Jerusalem".
Damit ist selbstverständlich nicht das historische Jerusalem gemeint,
noch viel weniger das Bild, das diese Stadt
gerade in diesen Tagen wieder bietet.

Der Name „Jerusalem" steht vielmehr 
für die Vision der „himmlischen" Stadt Gottes,
für jenes an Gottes Maßstäben orientierte Gemeinwesen,
das in den Evangelien häufig auch „Reich Gottes"
oder „Himmelreich" genannt wird.

Jesus sagt nach Auskunft des Lukasevangeliums:
„Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch."
Daher ist es durchaus legitim,
die biblischen Visionen vom „himmlischen Jerusalem"
als Orientierungsrahmen für die politische Gestaltung
einer „weltlichen Stadt" heranzuziehen.

Welche Kriterien für eine menschenfreundliche Stadt
können wir vom Symbol der „himmlischen Stadt" ableiten?

„Jerusalem" als Stadt Gottes steht und fällt mit der Gerechtigkeit.
Nur eine Stadt, die sich dem Recht zuwendet,
kann „gerettet" werden.
Die Defizite an Gerechtigkeit waren in biblischer Zeit
gar nicht so grundverschieden von den Problemen,
die uns heute immer wieder beschäftigen:
Da ging es um Korruption - wie auch heute.
Da waren die „Witwen und Waisen" so unterpriviligiert
wie alte oder alleinerziehende Frauen heute.
Da gab es Villenviertel und soziale Brennpunkte,
innerhalb der gleichen Stadtmauern,
überdimensionierte Paläste des Reichtums 
und Straßenszenen von Wohnungslosen und Nichtseßhaften,
wie es das alles auch heute gibt.
Den Fremden erging‘s nicht besser
als vielen unserer „Ausländer" heute.
Wer bis an‘s unterste Ende der sozialen Leiter abgerutscht war,
hatte damals so wenig Chancen wie heute auch.

Natürlich haben wir heute einen „Rechtsstaat"
und sind stolz darauf.
Aber so anders war das damals auch nicht:
Von der biblischen Rechtsordnung können 
wir sogar heute noch lernen.
Es geht damals wie heute um die „Löcher" im Rechtssystem,
die zu allen Zeiten vor allem die Reichen und Mächtigen
zu nutzen verstanden.
Wer zahlt denn heute Steuern?
Und wer versteht es, diese lästige Pflicht zu umgehen?
Nach dem Buchstaben des Gesetzes bekommt
jeder Asylbewerber natürlich sein Recht.
Aber manche Kommune sieht sich 
angesichts leerer Stadtkassen veranlaßt,
dieses „Recht" so restriktiv wie möglich auszulegen.
Nicht einmal der Anspruch der Legalität wird immer gewahrt,
- die zahlreichen gerichtlichen Erfolge 
des Kirchenasyls belegen das -
geschweige denn der Anspruch von Gerechtigkeit,
die mehr ist als Legalität.

Ein Gesetz kann allenfalls Gleichbehandlung
aller Betroffenen garantieren.
Aber Gleichheit ist etwas anderes als Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit hat es immer auch zu tun 
mit der unwiederholbaren Einmaligkeit eines Menschen,
seiner Geschichte, seines Schicksals und seiner Not.
Und nun sagen Sie mir,
welcher Sachbearbeiter einer Ausländerbehörde
oder auch eines Sozialamtes hat die Kompetenz,
sich an der konkreten Situation eines Klienten zu orientieren
und sich so um Gerechtigkeit zu bemühen.
Wer darf schon selbst Spielräume, die das Gesetz läßt,
zugunsten des Antragstellers ausschöpfen -
wenn daraus Kosten resultieren,
die den Stadtsäckel belasten?
Welche zum Sparen gezwungene Stadt hat schon,
wenn es um die Kürzung der sogenannten freiwilligen Leistungen geht,
zunächst und vor allem das Wohl der Armen im Blick?

Die Vision einer gerechten Stadt
hat auch die Beteiligung aller an Entscheidungen im Blick.
Wir nennen so etwas „Demokratie".
Aber seien wir ehrlich und selbstkritisch!
Wie hoch wird am 9. September 
in Göttingen die Wahlbeteiligung sein?
Und warum bleiben so viele der Wahl fern?
Werden in Göttingen Jugendliche,
die - aus welchen Gründen auch immer -
einen anderen als den bürgerlichen Lebensstil gewählt haben,
beteiligt an Gesprächen über die Lösung jener Probleme,
die sie betreffen,
und die sie - in unseren Augen -
sogar selbst darstellen?
Gerechtigkeit und Toleranz sind Zwillingsschwestern! 
 

Ich bekenne, daß ich seit fünfzehn Jahren
gern in „meiner" Stadt Göttingen wohne.
Ich weiß aber, daß viele Menschen keinen Grund 
zu einem solchen Bekenntnis haben,
und daß andere, die gerne dort wohnen würden,
in der ständigen Angst leben,
abgeschoben zu werden.
Dieses Wissen vergällt mir nicht selten
mein eigenes Bekenntnis zu dieser Stadt.

Gerechtigkeit im Vollsinn dieses Wortes
ist also ein erste Orientierungshinweis
des „himmlischen Jerusalem" für eine „weltliche Stadt".

Einen zweiten Hinweis gibt das politisch hochaktuelle
Stichwort Sicherheit.
Im berühmten 21. Kapitel der Offenbarung heißt es
von dieser himmlischen Stadt Jerusalem:
„Ihre Tore werden den ganzen Tag nicht geschlossen!" 
Jeder kann sich also jederzeit frei bewegen.
Dunkle und gefährliche Winkel gibt es nicht.
Kinder gehen angstfrei zur Schule.
Ältere können auch abends unbesorgt ausgehen.
Und dazu bedarf es keiner besonderen Sicherheitsvorkehrungen.
Geschlossene Tore, strengere Gesetze, mehr Polizei -
das alles ist überflüssig!

Warum?
Die Bibel nennt den Grund:
Die Herrlichkeit Gottes erleuchtet die Stadt
und die in ihr wohnen.
Diese Sprache verstehen wir nicht,
mögen sie wohl auch nicht.
Verständlicher wird sie vielleicht
mit Hilfe eines Beispiels:
Vor vielen Jahren kam ich auf einer
Fahrradfahrt mit Jugendlichen in ein Dorf.
Dort stellten wir für eine Rast unsere Räder an der Kirche ab
und schlossen sie gewohnheitsmäßig mit einer Kette zusammen.
Da kam eine Frau auf uns zu und sagte:
„Hier brauchen Sie Ihre Räder nicht abzuschließen;
hier ist alles evangelisch!"

Ich denke, diese Frau hat das Sicherheitsproblem
auf den Punkt gebracht:
Die selbstverständliche Vermittlung von Werten,
die Hinführung zu einem lebendigen Glauben
und zur Mitte christlichen Glaubens, zu Jesus Christus selbst,
machen die Polizei überflüssig.

Bleiben wir für ein drittes Kriterium
noch einen Augenblick beim 21. Offenbarungskapitel:
Das liefert uns ein weiteres Stichwort:
Transparenz.
Die Vision spricht davon,
die neue Stadt sei eine durchsichtige Stadt.
Alles - selbst die Straßen -
durchsichtig wie Glas.
Eine durchsichtige Politik selbstredend -
schließlich kommt Politik ja von „Polis"
und das heißt „Stadt".

Eine durchsichtige, der Wahrheit verpflichtete Sprache.
Das krasse Gegenteil von „Babelsprache",
Lügensprache,
Verschleierungssprache.
Eine menschliche, an der Würde des Menschen orientierte Sprache,
der das Wörterbuch des Unmenschen fremd ist.
Messen Sie doch mal die Sprache unserer Zeitungen
oder auch die Sprache des aktuellen Wahlkampfes
an der Sprache Jesu,
der wie kein anderer 
die befreiende , erlösende,
tröstende und lebenerweckende
Sprache der „himmlischen Stadt" beherrschte.

„Durchsichtig" ist übrigens nicht gleichbedeutend mit „entlarvend"!
Entlarvende Sprache zerrt in den Dreck.
Wer zu entlarven meint,
„durchschaut" Menschen mit schmutzigen Augen.
Ein Lehrer, der an einen Schüler glaubt,
durchschaut ihn nicht auf das Schlechte hin.
Er durchschaut den Schüler
und entdeckt in ihm das verborgene Gute
und lockt mit seiner Art zu durchschauen
das Gute geradezu aus dem Schüler heraus.
Stellen Sie sich nur für einen Augenblick vor,
ein Politiker würde seinen Konkurrenten von der anderen Partei
so konstruktiv durchschauen!
Dann hätten Sie so ungefähr eine Vorstellung davon,
was die Bibel meint mit dem scheinbar widersprüchlichen Satz:
die Stadt sei aus reinem Gold, wie aus reinem Glas.

In der Offenbarung ist davon die Rede,
ein Engel habe die neue Stadt mit einem goldenen Meßstab neu vermessen.
Genau darum geht es:
Wir müssen unsere Städte neu vermessen -
mit jenem goldenen Maß, 
das uns in Jesus Christus geschenkt ist.
Die Straßen neu vermessen:
ob sie wirklich Verbindungswege sind
zwischen den Menschen.
Unsere Rathäuser neu vermessen:
ob sie durchsichtig sind wie Glas,
oder ob sie Dunkelkammern sind,
in denen sich Menschenverächtliches entwickelt.
Auch unsere Häuser und Wohnungen neu vermessen:
ob Menschen darin atmen und sich freuen können 
- alle Menschen -
auch Kinder, Alte, Lahme,
Blinde und Minderheiten.
Alle Häuser müssen wir neu vermessen -
auch die am Rand
und die sogenannten Schlichtwohnungen
und die sozialen Brennpunkte.

Nicht dann ist eine Stadt schon eine gute Stadt,
wenn alles läuft!
Wenn alles läuft,
werden auch viele überfahren.
Gerade Christen in einer Stadt haben die Aufgabe,
eine neue Stadt zu erfinden.
Christen haben in ihren Heiligen Schriften 
jene Vision einer neuen Stadt,
die nicht in frommen Bibelkreisen verstauben darf,
die vielmehr danach schreit,
in Politik umgesetzt zu werden.
Gerade Christen haben in Jesus Christus
das Bild neuen Menschen,
ohne den es keine neue Stadt geben wird.

Amen.