Predigt über die hl. Edith Stein 
am 12. August 2001
Anlaß dazu ist einmal ihr Fest am 9. August, zum anderen die Enthüllung und Segnung eines neuen Edith-Stein-Bildes in St.Michael.
Die Lesungen des Gottesdienstes: Est.4, 17k-m.r-t; Joh. 4, 19-24.
Predigt von P.Heribert Graab S.J.
Um seiner unzähligen Heiligen willen
schmückt sich die Stadt Köln stolz
mit dem Ehrentitel „Das heilige Köln".
Göttingen erscheint demgegenüber nicht nur bescheiden,
sondern regelrecht ärmlich.
Seit mehr als tausend Jahren sind mit unserer Stadt
- genauer: mit der Pfalz Grona -
lediglich vier Namen bedeutender Heiliger verbunden:
das Kaiserpaar Heinrich und Kunigunde,
sowie die Bischöfe Bernward und Godehard.

Um so wichtiger 
- und das nicht nur für die Kirche in Göttingen,
sondern für die Stadt selbst und ihre Universität! -
um so wichtiger ist die Tatsache,
daß mit Edith Stein eine bedeutende Heilige unserer Zeit
ganz entscheidende Jahre ihres Lebens 
hier in Göttingen verbracht hat.

Schon in sehr frühen Jahren 
- als Jugendliche -
hatte Edith Stein den Glauben ihrer Vorfahren abgelegt.
Als sie 1913 nach Göttingen kam,
nannte sie sich selbst eine Atheistin.
Sie sagt:
„Ich habe mir das Beten ganz bewußt
und aus freiem Entschluß abgewöhnt."

Was sie nach Göttingen zog,
das war die Philosophie -
konkret die Phänomenologie
und insbesondere deren großer Meister:
Edmund Husserl.
Ganz begeistert erzählt die Einundzwanzigjährige 
von ihren ersten Erfahrungen in unserer Stadt: 
„In Göttingen wird nur philosophiert -
Tag und Nacht, beim Essen, auf der Straße, überall.
Man spricht nur von Phänomenen."

In dieser ersten Begeisterung
und auf der Suche nach der Wahrheit
knüpft sie schnell enge persönliche Kontakte
im Mitarbeiter- und Studentenkreis rund um Edmund Husserl.
Insbesondere entsteht eine persönliche Freundschaft
zu Prof. Adolf Reinach, der damals Husserls „rechte Hand" war, 
und zu dessen Frau.
Beide waren - wie sie selbst - jüdischer Herkunft.
Beide waren jedoch zur evangelischen Kirche konvertiert
und tiefgläubige Christen geworden.

Auch lernt Edith Stein bei Husserl
dessen Schülerin Hedwig Conrad-Martius kennen -
ebenfalls eine glaubwürdige evangelische Christin, 
die sie später sogar zu ihrer Taufpatin wählt,
und mit der sie zeitlebens in tiefer Freundschaft verbunden war.

Wichtig war in jenen Jahren auch die Begegnung mit Max Scheler,
der von der Philosophischen Gesellschaft
immer wieder zu Vorträgen nach Göttingen eingeladen wurde.
Edith Stein sagt:
Scheler sei zu jener Zeit ganz erfüllt gewesen
von katholischen Ideen
und habe es verstanden,
mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt
für sie zu werben.

Zum Glauben kam Edith Stein selbst damals noch nicht;
aber all diese Begegnungen erschlossen ihr
eine bis dahin völlig unbekannte Welt.
Gerade das Studium der Phänomenologie
schärfte ihr beständig ein,
alle Dinge vorurteilsfrei ins Auge zu fassen.
Und nun war sie konfrontiert mit den Phänomenen einer Glaubenswelt,
an denen sie auf Grund rationalistischer Vorurteile
bisher blind vorbeigegangen war.
Das war nun nicht mehr möglich,
weil in dieser Welt Menschen lebten,
mit denen sie täglich umging,
zu denen sie mit Bewunderung aufblickte.

Erste Anstöße, sich mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen,
erhielt Edith Stein also im Umfeld der Geisteswissenschaften
und im Freundeskreis eines der bedeutendsten Lehrer,
der an unserer Göttinger Universität gewirkt hat.
Später in Freiburg hat Edith Stein
bei Edmund Husserl „summa cum laude" promoviert,
erhielt von ihm als eine der ersten Frauen
das Angebot zur Habilitation,
wurde seine Assitentin
und in dieser Aufgabe Vorgängerin des berühmten Martin Heidegger.

Gerade hier in Göttingen, 
wo der Rationalismus keineswegs überwunden ist,
scheint es mir wichtig zu sein,
auf dieses Zusammenspiel 
von Wissenschaft und Glaubensentwicklung
bei Edith Stein hinzuweisen.

In ihre Göttinger Zeit fällt der Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Der konfrontiert Edith Stein zum ersten Mal 
mit einem zentralen Aspekt christlichen Glaubens -
mit dem Kreuz.
Konkret fiel im Jahre 1917 ihr Freund Adolf Reinach in Flandern.
Dessen Frau bat Edith, seinen philosophischen Nachlaß zu ordnen.
Sie übernahm diese Aufgabe - allerdings nicht ohne Ängste:
Wie sollte sie ein Wort des Trostes finden
für die junge Frau Reinach,
die nach nur kurzer und überaus glücklicher Ehe zur Witwe geworden war?
Aber sie fand keine gebrochene und verzweifelte Frau vor,
sondern einen Menschen, der sich am Kreuz Christi festhielt
und in diesem Kreuz Kraft fand.
Später schreibt Edith Stein:
„Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz
und seiner göttlichen Kraft...
Es war der Augenblick,
in dem mein Unglaube zusammenbrach...
Und Christus aufstrahlte:
Christus im Geheimnis des Kreuzes."

Als sie viel später in den Kölner Karmel eintrat,
stand für sie fest,
daß das Kreuz Christi Bestandteil ihres Namens werden sollte:
Sie wählte den Ordensnamen 
Theresia Benedicta a Cruce,
die „vom Kreuz Gesegnete".
Damals ahnte sie schon, 
daß dieses Kreuz sie nicht mehr loslassen würde.
Sie blieb ihm verbunden bis in ihren Tod hinein -
bis in die Gaskammern von Auschwitz (am 9. August 1942).

Im Gedenken an Edith Stein,
die vor jetzt knapp drei Jahren 
von der Katholischen Kirche heiliggesprochen wurde, 
und in Erinnerung an ihre so entscheidenden Göttinger Jahre
enthüllen wir heute für unsere Kirche ein Bild von Edith Stein,
das sowohl auf diese Zeit in unserer Stadt,
als auch auf ihre Verbundenheit mit dem Kreuz Christi
Bezug nimmt.

Die Künstlerin Theresia Schüllner
hat für diese Bild-Text-Komposition
bewußt ein „junges" Bild der Heiligen gewählt
und Texte verarbeitet,
die von ihrer „Suche nach der Wahrheit"
gerade während der Göttinger Jahre
Zeugnis ablegen.
Das eigentliche Thema des Bildes jedoch ist
„das Kreuz des Herrn, das" - nach Edith Stein -
„die Quelle allen Segens ist".

Ihr Tod in Auschwitz
war aus unserer Perspektive ein brutaler Mord
- auf das engste verwoben mit dem Massenmord 
an ihren jüdischen Schwestern und Brüdern.
Aus ihrer eigenen Perspektive war ihr Tod darüber hinaus jedoch auch
„Holokaustum" - „Ganzhingabe" ihres eigenen Lebens
in der Nachfolge des gekreuzigten Christus.

Ihr Tod in Auschwitz möge unter dem Zeichen des Kreuzes
sowohl für uns als Christen,
als auch für ihr jüdisches Volk
eine Quelle des Segens sein.
Für diesen Wunsch steht 
die rote Grundfarbe unseres neuen Bildes.

Amen.