Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis (C) 
am 16. September 2001
...unter dem Eindruck des 11. Septembers und seiner sich abzeichnenden Folgen.
Das Evangelium des Tages: Lk. 15, 1 - 32.
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Inzwischen haben sich die riesigen Staubwolken 
über Manhattan verzogen
und den Blick freigegeben
auf das unvorstellbare Ausmaß der Verwüstung.
Wir sehen mit klareren Augen
die grenzenlose und bisher unvorstellbare Unmenschlichkeit und Bosheit,
die immer noch ungezählten Menschen den Tod brachte
und vielen, vielen anderen unsägliches Leid.

Zugleich jedoch legen sich neue Nebelschleier
auf die Augen vieler Menschen
und trüben den klaren Blick.

Psychologen sagen,
auf eine einschneidende Verlustsituation
folgten drei Reaktionsphasen:
eine Phase des Schocks,
eine Phase der Wut,
und dann die Phase der Aufarbeitung.

Und weiter sagen sie,
grundlegende, das Leben verändernde Entscheidungen
dürfe man in den Phasen des Schocks und der Wut nicht treffen,
da diese Phasen den klaren Blick verstellten.

Genau das aber geschieht im Augenblick:
Die Phase des Schocks ist noch nicht verklungen,
da stellt sich schon - verständlicherweise - 
eine unsägliche Wut ein.
Und aus dieser Wut heraus fallen Entscheidungen
über Krieg und Frieden;
wird der Präsident der Vereinigten Staaten
- getragen von der Wut der Öffentlichkeit -
ermächtigt, weitgehend nach eigenem Gutdünken
„den ersten Krieg des neuen Jahrhunderts" zu führen;
werden ihm zu diesem Zweck ungeheure Summen
einstimmig durch den Kongreß bewilligt.

Eine Kommentatorin des öffentlich rechtlichen Fernsehens bei uns
verstieg sich dieser Tage zu der erschreckenden Aussage,
das Neuen Testamentes könne uns im Augenblick keine Hilfe sein,
dies sei vielmehr der Augenblick,
wieder auf das Alte Testament zurückzugreifen:
„Auge um Auge und Zahn um Zahn".
Die Bildzeitung hätte es kaum drastischer formulieren können.

Diese Kommentatorin hat offenkundig
nicht einmal die geringste Ahnung vom sog. „Alten" Testament.
Sie weiß nicht,
daß die von ihr zitierte Aussage
einen wesentlichen Punkt der Menschheitsentwicklung
zu mehr Menschlichkeit markiert;
daß diese Aussage die zügellose, 
aus der Wut resultierende Gewalt eindämmt
und den überlegten, gerechten und klar begrenzten 
Gebrauch von Gegengewalt einfordert.

Zugleich bedenkt sie nicht,
daß das Neue Testament nicht wegzudenken ist
aus der Entwicklung der Menschheit,
ohne Schleusen unkontrollierter Gewalt,
katastrophaler Ungerechtigkeit
und Unmenschlichkeit zu öffnen.

In diese Situation hinein haben wir soeben
das Evangelium des heutigen Sonntags gehört.
Aber wer mag schon in diesem Augenblick
das Evangelium der Versöhnung hören???

Gewiß stellt auch Jesus vor die Versöhnung die Umkehr.
Aber nach seinem Verständnis müssen beide dazu beitragen!
Gleich das erste Gleichnis macht das deutlich:
Der gute Hirt geht dem „verlorenen" Schaf nach,
anstatt es einfach „abzuknallen".
Er bemüht sich engagiert um dieses „Verlorene",
läßt sogar die neunundneunzig anderen in der Steppe zurück.

Ähnlich das Gleichnis vom barmherzigen Vater:
Der ist erfüllt von Trauer - nicht über sich selbst,
sondern über den „verlorenen" Sohn!
Er hat ihn nicht abgeschrieben!
In ihm ist die Hoffnung lebendig,
daß der heimkehren wird.
Aus dieser Hoffnung heraus tritt er Tag für Tag aus dem Haus,
um nach ihm Ausschau zu halten.
Aus dieser Hoffnung heraus erspäht er ihn schon aus der Ferne.
Auf der Basis dieser hoffenden Liebe
kann und will er kein Scherbengericht veranstalten,
sondern lädt vielmehr ein zu einem großen Fest. 

Viele von uns sollten sich eigentlich
nach dem vergangenen Dienstag 
in der Rolle des zweiten Sohnes wiedererkennen.
Der bringt kein Verständnis auf für das Verhalten des Vaters,
wie manche auch heute abend wahrscheinlich
wenig Verständnis aufbringen für diese Predigt.

Jesus hat dennoch auch ihn nicht abgeschrieben.
Er geht ihm in der Rolle des Vaters nach,
wie er in der Rolle des guten Hirten
dem verlorenen Schaf nachgeht,
wie er in der Rolle der Frau
das ganze Haus umkrempelt
auf der Suche nach der verlorenen Drachme.

Auch ich bin niemandem böse,
der mit dieser Predigt heute nichts anfangen kann.
Aber das Evangelium Jesu sollte schon 
wieder zum Maßstab unseres Denkens werden -
spätestens dann, wenn die Phase der Aufarbeitung einsetzt.
Hoffentlich ist es dann nicht zu spät!

Vielleicht werfen Sie gleich noch einen Blick
auf die Gestalt des Erzengels Michael in unserer Kirche:
Der Schutzpatron unserer Gemeinde
schlägt nicht mit dem Schwert drein.
Seine Waffe gegen die Macht des Bösen
ist das Kreuz Jesu Christi.

Amen.