Bildbetrachtung und Predigt zum 6. Sonntag 
im Jahreskreis (B) am 16. Februar 2003
Lesung: aus Lev. 13, 1-2 und 43 ff.
Evangelium: Mk. 1, 40-45
Dazu aus dem Evangeliar von Echternach (um 1040) die "Heilung des Aussätzigen".
Autor: P.Heribert Graab S.J. 

Aussatz ist eine schlimme Krankheit -
eine ansteckende dazu.
Heute ist diese Krankheit heilbar,
aber damals blieb der Gesellschaft 
keine andere Möglichkeit sich zu schützen
als durch die Isolation der Kranken.
Wir haben Auszüge aus diesem Quarantäne-Gesetz,
das Menschen häufig ein Leben lang ausgrenzte,
in der ersten Lesung gehört.

Wer vom Schicksal dieser Krankheit
oder im Mittelalter von der Pest
oder heutzutage zum Beispiel von AIDs
und zumal vom Schicksal des Ausgestoßenseins
betroffen war oder ist,
der ist ganz unten angekommen -

so wie der Aussätzige auf dieser Buchmalerei
des Echternacher Kodex aus der Zeit um 1040.
Nicht nur die Krankheit hat ihn gezeichnet.
Viel schmerzlichere Wunden hat ihm
die Ausgrenzung durch seine Mitmenschen
und die Hoffnungslosigkeit des Lebens zugefügt.
Diese schwere Last hat ihn niedergebeugt.

Versuchen Sie einmal,
sich wenigstens für einen Augenblick
in die Situation dieses Menschen zu versetzen.
Mancheiner von uns hat vielleicht in seiner Kindheit
Ausgrenzung in der Schulklasse erfahren:
als Brillenträger, als Neuzugezogener und Fremder,
oder einfach als jemand, der irgendwie anders ist als die Anderen. 
Oder erinnern Sie sich nur daran,
wie sehr es Sie selbst belastet,
wenn jemand, den Sie lieben,
oder dessen Nähe Ihnen wichtig ist,
kein Wort mehr mit Ihnen wechselt,
Ihnen aus dem Wege geht und Sie „schneidet".
Und erinnern Sie sich an jene Momente Ihres Lebens,
die von Hoffnungslosigkeit gezeichnet waren.
Schon solche Momente erscheinen uns manchmal unerträglich
und wir möchten sie möglichst kein zweites Mal erleben. 

Um wieviel mehr leidet wohl dieser 
an Leib und Seele verwundete Mensch?!
Erst wenn wir wenigstens etwas von diesem Leid erahnen,
können wir einigemaßen ermessen,
was es für ihn bedeutet,
daß da jemand zu ihm „herabsteigt",
daß da jemand - den Vorschriften zum Trotz -
seine Nähe sucht,
die eigene Angst vor Ansteckung überwindet
und ihn gar zärtlich berührt.

Die Nähe dieses Menschen und seine „Zuneigung"
- ganz wörtlich bringt der mittelalterliche Buchmaler die zum Ausdruck -
die Nähe dieses Menschen und seine „Zuneigung"
bringen Licht in seine Dunkelheit,
bringen Liebe in sein Leben
und heilen ihn.

Wir kennen das Wort „Homo homini lupus" 
- Der Mensch ist des Menschen Wolf -
und wir erfahren immer wieder,
wie zutreffend dieses Wort ist.

Jesus durchbricht die Geltung dieser Erfahrung.
Er erweist sich als „homo homini medicina" -
als ein Mensch, der für diesen Zerschlagenen
und für viele, viele andere leidgeprüfte Menschen
zur Medizin wird - zum „Heiland".

Im Matthäusevangelium ist uns ein Jesus-Wort überliefert,
das in dieser Szene konkret wird:
„Kommt alle zu mir, 
die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt.
Ich werde euch aufatmen lassen." (Mt. 11, 28)

Im Bild sind hinter Jesus zwei Jünger mit Ihm auf dem Weg.
Sie schauen Ihm auf die Finger,
und der eine von ihnen - es dürfte Petrus sein -
probiert schon einmal,
die offene, sich zuwendende und heilende Handbewegung
des Meisters nachzumachen.
Er lernt, was es in der Nachfolge Jesu zu allen Zeiten zu lernen gilt:
den heilenden Umgang mit Anderen.

Und nochmals hinter den Jüngern
sind auf dem Bild vier weitere Personen zu erkennen -
Zeitgenossen des Künstlers:
Sie schauen in die Ferne.
Mir ist eine Interpretation ihres Blickes,
die ich dieser Tage las,
besonders sympathisch:
Sie halten Ausschau nach Menschen,
die Jesu heilendes Tun fortsetzen - auch heute.

Immer wieder hat es solche Menschen in der Nachfolge Jesu gegeben:
Von Franz von Assisi wird erzählt,
er sei eines Tages einem Aussätzigen begegnet
und habe voll Widerwillen und Ekel das Gesicht abgewandt.
Dann aber sei er einer inneren Stimme gefolgt,
sei auf den Aussätzigen zugegangen,
habe ihn geküßt und ihm ein Geldstück gegeben.

Der junge Jesuit Aloysius von Gonzaga
pflegte bei einer Pestepidemie in Rom
die Kranken, bis er sich selbst ansteckte
und drei Monate später starb.

Hospiz- und Krankenpflegeorden sind ein Proprium des Christentums
und haben Entscheidendes beigetragen
zu einer Humanisierung des Umgangs
mit Kranken und Sterbenden.

Heinrich Böll hat dazu einmal gesagt:
„Selbst die allerschlechteste christliche Welt
würde ich der besten heidnischen vorziehen,
weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die,
denen keine heidnische Welt je Raum gab:
für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache.
Und mehr noch als Raum gab es für sie:
Liebe für die, die der heidnischen, wie der gottlosen Welt
nutzlos erschienen und erscheinen."

In unserer Zeit ragt aus vielen unbekannten Namen
ein Name heraus, der ganz vielen Menschen 
- auch Nichtchristen - vertraut ist:
Der Name jener Frau, die als „Mutter Teresa"
sich ganz in den Dienst der Kranken
in den Slums von Kalkutta stellte.

Sie hat einmal gesagt:
„Die größte Krankheit heute ist nicht die Lepra oder die Tuberkulose,
sondern vielmehr unerwünscht zu sein,
ohne Fürsorge und verlassen von allen.
Das größte Übel ist der Mangel an Liebe,
die schreckliche Gleichgültigkeit 
gegenüber dem Nachbarn, der am Wegrand lebt,
von Ausbeutung, Verderbnis, Armut
und Krankheit heimgesucht."

Die Einladung Jesu in Seine Nachfolge bedeutet,
mit den Augen der Opfer all dieser Übel
die Wirklichkeit zu betrachten.
Wir müssen also erst einmal in deren Haut schlüpfen -
so wie Jesus selbst es dem Schriftgelehrten anriet,
der Ihn fragte: „Wer ist denn mein Nächster?"
Jesus kleidete seine Antwort in eine Geschichte,
in die Geschichte von jenem Kaufmann,
der auf dem Weg nach Jericho unter die Räuber fiel.
Ein Priester ging vorbei - und hatte keine Zeit.
Ein Levit ging vorbei - und hatte keine Zeit.
Ausgerechnet ein Ausländer, ein Mensch aus Samaria,
nahm sich die Zeit für diesen zusammengeschlagenen und hilflosen Mensch.
Und dann lautet die entscheidende Gegenfrage Jesu
nicht: „Wer ist nun dein Nächster?",
sondern: „Wer wurde zum Nächsten für den,
der unter die Räuber gefallen ist?"

Wenn es uns gelingt,
in diesem Sinne in die Haut der Opfer zu schlüpfen
und mit ihren Augen zu sehen,
dann wird es uns zur puren Selbstverständlichkeit,
bei diesem „Aussätzigen", bei jedem Ausgegrenzten
stehen zu bleiben
und ihn nicht auch noch aus dem eigenen Herzen auszugrenzen.

Dann wird es uns zur puren Selbstverständlichkeit,
zuzuhören, wenn jemand eine Klagemauer braucht,
und dem, der - z.B. in einem Altenheim oder in seiner Krankheit -
einsam geworden ist,
menschliche Nähe und Wärme zu vermitteln.

Dann wird es uns zur puren Selbstverständlichkeit,
auch Vergebung zuzulassen und Vergebung zu gewähren,
nach unseren Möglichkeiten, Frieden zu stiften,
und Menschen durch unsere Zuwendung zu „heilen".

Amen.