Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (B) 
am 26. Oktober 2003
Zum Evangelium: Mk. 10, 46b - 52 (Der blinde Bartimäus)
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Wir würden total in die Irre gehen,
wenn wir bei der Betrachtung dieses Evangeliums
unseren Blick auf ein „Wunder" richten würden,
das Jesus an diesem Blinden gewirkt hat.
Jesus ist nicht auf Show aus.
Er ist auch kein Zauberer,
dem wir auf seine Tricks kommen müßten.
Und schon gar nicht geht es ihm um ein „Event".
Mit Events und Shows glauben erst Menschen unserer Tage
der Sinnleere und Langeweile ihres Lebens entkommen zu können.

In der Konzeption des Markusevangeliums 
ist der Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem
eingerahmt von zwei Blindenheilungen -
und das nicht zufällig:
Gerade jetzt, da es ernst wird
und am Ziel des Weges das Kreuz erahnbar wird,
geht es ganz einfach darum,
daß die Jünger Jesu von „Blinden" zu „Sehenden" werden müssen.
Nur von dieser Intention des Markusevangeliums her
können wir verstehen lernen,
was dieses Evangelium uns zu sagen hat.

Ich möchte versuchen, 
einige für uns wichtige Aspekte herauszuarbeiten:

Erstens: Es klingt fast banal zu sagen,
daß wir selbst - wie die Jünger damals - die Blinden sind,
die der Heilung bedürfen.
Aber wer gibt schon gerne zu, blind durchs Leben zu gehen?
Daß jemand blind oder einäugig ist,
daß jemand durch eine wie auch immer gefärbte Brille schaut
oder daß jemand - wie wir gerne sagen - „Ein Brett vor dem Kopf hat",
das bemerken wir zu allererst bei anderen -
bei den Politikern zum Beispiel,
die gerade im Augenblick eine dringend notwendige Sozialreform diskutieren,
sich dabei aber den Blick verstellen lassen
durch die nächste Wahl,
durch die Interessen ihrer jeweiligen Klientel,
durch Gruppeninteressen also,
die sie blind machen für das Gemeinwohl,
dem sie eigentlich dienen sollten.

Aber soweit wir selbst noch ein politisches Interesse bewahrt haben
- das ist heutzutage ja nicht ganz selbstverständlich -
lassen auch wir uns bei dieser Diskussion den Blick verstellen:

• durch Eigeninteressen:
Es muß gespart werden - ja;
aber nur ja nicht so, daß ich selbst den Gürtel enger schnallen muß!

• durch Voruteile:
„Von der Durchschnittsrente kann man ganz gut leben
und leisten sich nicht viele Rentner ganz schön aufwendige Reisen?!"
„Arbeitslose sind Drückeberger,
die auf Kosten der Allgemeinheit leben.
Wer arbeiten will, findet auch was.
Und ist es wirklich so schlimm, 
mal einen geringer bezahlten Job anzunehmen?!"

Blind machen solche Vorurteile für die schlichten Tatsachen:
- daß der überwiegende Teil der Rentner und zumal der Rentnerinnen
von einer Rente unter dem statistischen Durchschnitt auskommen muß.
- daß es einfach zu wenig (bezahlte) Arbeit gibt - auch im unteren Lohnbereich.

• durch eingängige Ideologien, die wir einatmen, ohne es zu ahnen,
weil sie einfach unsere Luft verseuchen - wie Erkältungsviren. 
Wie manche Klimaanlagen von Klinken 
Krankheitskeime durchs ganze Haus verteilen,
so verbreiten heute fast alle Lehrstühle der Wirtschaftswissenschaften 
den Krankheitskeim des Neoliberalismus.
Und der macht blind - blind vor allem für Solidarität!

Was das mit dem Evangelium Jesu Christi zu tun hat?
Ganz einfach: Jesus selbst sieht gut,
weil er mit den Augen anderer sieht - 
zumal mit den Augen der Benachteiligten.
Und wenn Jesus einen Blinden heilt,
dann hilft er ihm, so zu sehen, wie er selber sieht:
mit den Augen derjenigen, die arm sind oder einsam,
mit den Augen derjenigen, die alt sind oder krank,
mit den Augen derjenigen, die ausgeschlossen sind
durch Fremdsein, durch Behinderung, durch Leid.

Mein Blindsein durch Jesus heilen zu lassen, bedeutet also: 
- in meiner Kommunität gut zu sehen, weil ich mit den Augen meiner Mitbrüder sehe,
- in der Familie gut zu sehen, weil ich mit den Augen meiner alten Eltern sehe,
- in der Ehe gut zu sehen, weil ich mit den Augen meiner Frau, bzw. meines Mannes sehe,
- im Beruf gut zu sehen, weil ich mit den Augen meiner Kollegen sehe,
- in der Gesellschaft gut zu sehen, weil ich mit den Augen der Benachteiligten sehe.

Betrachten wir einen zweiten Aspekt der Bartimäus-Geschichte:
Es wird erzählt, der Blinde habe „am Weg" gesessen.
Das Weg-Motiv spielt gerade im Markus-Evangelium eine große Rolle
und steht in der frühchristlichen Terminologie für die Jesus-Nachfolge.
Der Evangelientext schließt nicht zufällig mit den Worten:
„Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen,
und er folgte Jesus auf seinem Weg."
Anders ausgedrückt:
Er konnte vor allem denjenigen sehen, der ihn geheilt hatte.
Und in ihm konnte er sich selbst und seinen Weg und sein Ziel erkennen.
In der Nachfolge Jesu konnte er das Lebensbehindernde seiner Existenz abschütteln.
Darin liegt der Kern seiner Heilung!

Beziehen wir nun diesen Aspekt der Heilung des Bartimäus auf uns,
dann merken wir erst,
wie weit wir selbst noch entfernt sind
von einer wirklichen Heilung unseres Blindseins.

Wir merken allerdings auch,
welche Chance darin liegen würde,
wenn wir als in der Nachfolge Jesu wirklich Geheilte
selbst zu Heilenden werden würden:
Wenn wir als Christen Menschen unserer Umgebung,
die oft wie Blinde orientierungslos in dieser verwirrenden Zeit leben,
helfen könnten, Sinn und Ziel in ihrem Leben zu sehen.
Wir würden dann nicht mehr als lebende Beispiele 
eines alten Sprichwortes herumlaufen:
„Wenn ein Blinder einen Blinden führt,
fallen beide in die Grube."

Ein dritter Aspekt des heutigen Evangeliums noch:
Der blinde Bartimäus sitzt da am Wegesrand
gebeugt, mit demütig geöffneter Hand 
auf eine milde Gabe wartend,
oft vergeblich wartend,
frustriert und anscheinend in sein Schicksal ergeben -
so etwa, wie auch in unseren Straßen
viel zu häufig Bettler sitzen oder gar knien.

Aber bei Bartimäus bewirkt der Name Jesus etwas ?berraschendes:
Der fast schon verloschene Funke Hoffnung
glüht auf, wird zu einer lodernden Flamme,
und - was man eigentlich in dieser Lage nicht tun darf,
und was sogleich auch den Protest der Vorübergehenden hervorruft -
Bartimäus schreit seine Not heraus,
erregt unliebsames Aufsehen:
„Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!"
Ein aus schreiender Not heraus schreiender Hoffnungsglaube.

Und ausgerechnet dieser herausgeschrieene Hoffnungsglaube -
von dem sagt Jesus: „Der hat dich gerettet!"
Da steckt eine Menge Understatement, Untertreibung dahinter.
Jesus macht das Verhalten des Blinden groß - 
fast so, als hätte der Blinde sich selber geholfen.
Und das eigentlich Entscheidende - sein eigenes Tun - verkleinert Jesus.
So vermittelt Jesus dem, der immer nur Objekt anderer war,
wieder die Würde des Subjektseins.

Wer „schreit" denn heute und geht auf die Straße???
Das sind Menschen, die sich artikulieren können,
Menschen, die Interessenverbände oder Aktionsgemeinschaften im Rücken haben,
Menschen jedenfalls, die noch längst nicht ganz unten angekommen sind.
Die da unten haben keine Stimme,
dürfen auch keine haben -
ebenso wenig wie dieser blinde Bartimäus eine Stimme haben durfte.
Er aber setzt sozusagen die letzte Karte auf Jesus
und erhebt seine Stimme und schreit - ganz ungehörig.
Und Jesus bestätigt ihn in seinem ungehörigen Tun.
Das ist und bleibt ein Skandal.

Da wir als Christen den Namen Jesu tragen,
sollten wir uns mit diesem Skandal auseinandersetzen
und unsererseits überlegen,
wie wir heute „die da ganz unten" ermutigen können,
Ihre Not laut und unüberhörbar herauszuschreien.
Notfalls müssen wir ihnen, die keine Stimme haben,
unsere Stimme leihen - gegen den Protest der „anständigen Bürger",
gegen den Trend auch der herrschenden Politik.

Amen.