Predigt zum 14. Sonntag im Jahreskreis 
am 6. Juli 2003
Zum Evangelium: Mk. 6, 1b - 6
Autor: P.Heribert Graab S.J.
„Den kenn‘ ich doch schon!"
„Im Grunde weiß ich alles von dem!"
„Neue, überraschende Initiativen
erwarte ich von dem nicht mehr -
Wunder schon gar nicht!"

Wir kennen diese Denkweise alle,
diese Art, Menschen zu klassifizieren,
Menschen in Schubladen zu stecken,
Menschen „abzuhaken".
Vielleicht reagieren wir ja selbst so oder ähnlich
auf Menschen, die wir zu kennen glauben.

Die Zeiten ändern sich nicht sonderlich -
jedenfalls die Leute nicht.
Vor 2000 Jahren genau dasselbe:
Man glaubte ihn zu kennen, diesen Jesus.
Er lebte schließlich viele Jahre in der Nachbarschaft.
Seine Familie - einfache Leute.
Sein Vater - arbeitete der nicht auf dem Bau?
Was sollte Besonderes an dem sein?!
Der soll sich nur nicht wichtig machen,
nicht so tun, als sei er etwas Besseres!

Und dann war da ja noch dieser Nathanael.
Der kannte Jesus überhaupt nicht.
Aber jemand hatte ihm gesagt:
„Der kommt aus Nazareth."
Nathanaels spontane Reaktion:
„Kann denn aus Nazareth,
aus diesem unbedeutenden Dorf auf dem Lande,
etwas Gutes kommen?!"

Auch diese Reaktion ist uns durchaus
aus eigener Erfahrung vertraut.
Vielleicht kennen Sie das alte Göttinger Vorurteil:
Was kann aus dem Eichfeld schon Gutes kommen?
Vom Land! Und dann auch noch katholisch!

Die Überheblichkeit vieler Städter
- nicht nur der Göttinger -
spiegelt sich im gewiß scherzhaften Spiel
mit den Autokennzeichen:
AW - Ahrweiler - „Armer Winzer"
SU - Siegburg - 
Wer aus diesem Landkreis kommt,
kann sowieso nicht Auto fahren. Also:
SU - „Sau unterwegs" oder „Suche Unfall".
Man lacht drüber;
aber es steckt sehr wohl eine Einstellung dahinter:
Die kennen wir doch!
Die gleiche Einstellung,
mit der Menschen damals diesen Jesus ausbremsten:
Er konnte dort keine Wunder tun.
Er konnte nichts bewegen.
Die Leute waren durch ihre Vorurteile blockiert
und blockierten damit zugleich Ihn.

Da steckt eine wichtige psychologische Erkenntnis dahinter:
Vorurteile lähmen!

Was ist früher: Huhn oder Ei?
„Der ist schon über fünfzig.
Von dem ist nichts mehr zu erwarten."
Ist wirklich nichts mehr von ihm zu erwarten,
weil er über fünfzig ist?
Oder ist möglicherweise deshalb nichts mehr von ihm zu erwarten,
weil er immer wieder abgewiesen wird,
weil er abgeschrieben ist,
weil er es immer wieder zu hören bekommt,
von ihm sei nichts mehr zu erwarten?

Diese Blockade wirkt sich nicht nur auf einzelne Menschen aus.
Diese Blockade betrifft z.B. auch die Kirche:
„Die kennen wir doch!"
„Deren Geschichte kennen wir!"
„Den Papst sowieso
und den Pfarrer auch."
„Was ist von dieser Kirche schon zu erwarten?"

Kürzlich kam ich ins Gespräch
mit einer jungen Frau aus irgend einer Kleinstadtgemeinde:
Alter, verknöcherter Pfarrer,
nichts los,
Kirchenbesucher, denen wichtiger ist,
was „die anderen „ anhaben",
als Gottesdienst und Glaube.
Sie kannte ihre Kirche - 
oder glaubte wenigstens, sie zu kennen.
Über den Kirchturmhorizont ihrer Kleinstadtgemeinde
hatte sie jeoch kaum je hinausgeschaut.

Und dann erlebte sie für einige Zeit St.Michael,
und erlebte - natürlich! - eine andere Kirche;
erlebte, daß Kirche auch ganz anders sein kann
als jenes Bild, das sie sich von ihr gemacht hatte.

Keineswegs für uns ein Grund,
uns in die Brust zu werfen!
Es gibt ganz genauso umgekehrte Erfahrungen:
Daß nämlich Göttinger anderswo erleben,
Kirche kann sehr wohl in Bewegung setzen,
was hier in St.Michael seit Jahren
nur vor sich hindümpelt.

Der Kirchturmhorizont - egal wo der Kirchturm steht -
engt den Blick ein,
läßt unzählige Möglichkeiten und Chancen
gar nicht erst in den Blick kommen,
bremst also auch Phantasie und Kreativität aus,
wirkt lähmend.
Da bewegt sich nicht mehr viel.
Da geschehen keine Wunder.

Ein anderes Beispiel:
All diejenigen von uns,
die jüngst in Polen waren
- in Krakau z.B. oder in Thorn -
haben eine ganz andere Kirche erlebt.
„Was kann aus Polen schon Gutes kommen?!"
Mit diesem Nathanael-Vorurteil
ist wohl so mancheiner hingefahren.
Auf unserer Krakau-Fahrt jedoch konnte man förmlich „hören",
wie einige Vorurteile in sich zusammenbrachen:

Gewiß, unter mancher Rücksicht eine „konservative" Kirche;
aber längst nicht so konservativ wie befürchtet.
Viele Neuaufbrüche auch.
Und vor allem eine sehr lebendige Kirche.
Zumal eine Kirche, die auch Jugendliche
anzusprechen, ja sogar zu begeistern versteht.
Wie macht die das bloß?

Einige hier bei uns unken schon:
Wartet nur ab, der westliche Kapitalismus und Konsumismus
wird auch diese Kirche noch schaffen!
Der Bischof von Thorn sagte mir dieser Tage jedoch:
„Seit der Wende erlebe ich zunehmend Firmlinge,
die hochmotiviert sind,
wesentlich besser vorbereitet als je zuvor,
und ausgesprochen engagiert."

Apropos engagiert:
Wir haben ein wenig die Caritas kennengelernt in Thorn.
Bei uns haben wir den Eindruck,
Caritasarbeit ist weitgehend professionalisiert
und hängt in vielen Bereichen am Tropf öffentlicher Zuschüsse.

Ganz anders dort:
Tausende von Ehrenamtlichen,
nicht professionell,
aber hochqualifiziert -
selbst in anspruchsvollen Bereichen,
von denen hier gesagt wird:
Das geht nur mit Hauptamtlichen.

Aber in Thorn wird schon von klein auf
der Boden bereitet:
Caritas-Kindergruppen bereits im Grundschulalter;
Motivation und Qualifikation von Kinderbeinen an.
Auch das ist Kirche - Kirche, die etwas bewegt.

Es geht nicht darum, Kirche zu bejubeln -
weder dort, noch hier, noch überhaupt.
Die Kirche braucht keine Claqueure -
so wenig wie Jesus die Hosanna- und Halleluja-Fans brauchte.

Aber Kritik an der Kirche
sollte begleitet sein von ein wenig Selbstkritik
gegenüber der Fülle von Vorurteilen,
von denen die Luft voll ist,
denen auch wir immer wieder aufsitzen,
und die uns selbst und andere lähmen.

Horizonterweiterung -
und dann mit offenen Augen hinschauen -
das täte uns gut.
Das motiviert,
setzt erstaunliche Energien frei,
motiviert zu Identifikation und Engagement,
macht „Wunder" möglich.

Amen.