Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis (B) 
am 5. November 2000
Die Predigt von P.Heribert Graab S.J. knüpft an das Tagesevangelium an: Mk. 12, 28b - 34.
Kaum ein Wort Jesu ist uns so vertraut
wie das dreifache „Liebesgebot":
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben 
mit ganzem Herzen und ganzer Seele,
mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft." Und:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."
Kaum ein anderes Wort Jesu wird auch von Außenstehenden
so sehr mit dem Wesen des Christentums identifiziert
wie gerade dieses Liebesgebot.

Diese Tatsache ist 
- so sehr sie etwas Richtiges trifft -
nicht ganz unproblematisch.
Sie trägt nämlich zu einem Mißverständnis bei:
Zur Fehldeutung der christlichen Botschaft
als einer im Kern ethischen Botschaft.
Die aber hängt in der Luft
und ist für uns eine glatte Überforderung,
wenn wir die Voraussetzung aus dem Blick verlieren:
Jesus erschließt uns nämlich mit Seiner frohen Botschaft
jene Quelle, aus der wir erst die Kraft und die Energie schöpfen können
für unser Leben überhaupt und für die Liebe erst recht.

Wir dürfen das Liebesgebot Jesu nicht isoliert betrachten,
sondern im Kontext des ganzen Evangeliums.
Der Schlüssel zum Verständnis findet sich z.B. im ersten Johannesbrief
und auch in den Worten Jesu selbst nach der Überlieferung des Johannesevangeliums:

Im Johannesbrief heißt es:
„Nicht darin besteht die Liebe, daß wir Gott geliebt haben, 
sondern daß er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden
gesandt hat." (1.Joh. 4,10)

Erst daraus, daß uns die Liebe Gottes geschenkt ist, 
ergibt sich die Möglichkeit, daß auch wir lieben können:
„Liebe (Schwestern und) Brüder, wir wollen einander lieben; 
denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott.
Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe.
Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart,
daß Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, 
damit wir durch ihn leben." (1.Joh. 4,7 ff.)

Auf diesem Hintergrund kann Jesus sagen:
„Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt
habe, so sollt auch ihr einander lieben." (Joh. 13,34)
„Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt.
Bleibt in meiner Liebe!" (Joh. 15,9)

So also kommt das Liebesgebot Jesu erst auf die Füße!
Zuerst ist da die Liebe Gottes zu uns,
die uns in Jesus Christus geschenkt ist;
und erst als Konsequenz dieses Geschenks der Liebe Gottes zu uns
können auch wir zu uns selbst Ja sagen
und Gott und die Menschen lieben.

Das ist nicht nur eine theoretische Aufeinanderfolge.
Vielmehr gilt: 
Nur wenn wir Gottes Liebe praktisch erfahren,
gewinnen wir aus dieser Erfahrung die Kraftquelle,
aus der unser Leben als ein Leben der Liebe gelingen kann.
Daher an uns alle die ganz konkrete Frage:
Wo und in welchen Situationen erfahre ich Gottes Liebe?
Was sind ganz konkret die Kraft- und Energiequellen meines Lebens?
(Lassen Sie sich durch den „Rahmen" eines Gottesdienstes
in Ihren Überlegungen nicht einengen auf bewußt „religiöse" Kraftquellen,
zum Beispiel auf das Gebet und den Gottesdienst selbst!)

- Stille -

Aus meiner persönlichen Erfahrung gibt es viele Kraft- und Energiequellen,
die mir helfen, auch den Schwierigkeiten des Lebens gewachsen zu sein,
immer wieder vertrauensvoll nach vorne zu blicken,
und Glaube, Hoffnung und Liebe auch mit anderen zu teilen.
Manchmal sind es die kleinen oder auch die überwältigenden Begegnungen
mit Gottes Schöpfung:
oft nur eine besonders schöne Blume, die meinen Blick fesselt,
oder - kürzlich noch - die faszinierenden Wolkengebilde am Himmel, 
die aufgewühlte und gischtende Nordsee
und der Sturm bei Windstärke 11.
In der meditativen Stille von Exerzitien fiel es mir nicht schwer,
hinter all dem das Wirken des Schöpfer selbst zu erfahren
und Seine Nähe zu verspüren.
„In allem Gott finden" -
das war und ist eines der grundlegenden Prinzipien
der Exerzitien des hl. Ignatius von Loyola. 
Das kann man wahrhaftig „einüben" (Exerzitien!).

Die wichtigste Kraftquelle ist für die meisten von uns
wohl die Begegnung mit konkreten Menschen
und die Freundschaft und die Liebe, die sie uns schenken.
Menschen, die uns durch ihre Zuwendung, ihr Verständnis, ihre Treue „tragen".
Sicherlich sollten wir all unsere Sehnsucht, 
getragen und gehalten zu werden,
nicht auf nur einen einzigen Menschen projizieren.
Das bringt gar zu oft Enttäuschungen mit sich
und endet im großen „Katzenjammer".
Dennoch scheint gerade in zwischenmenschlicher Freundschaft und Liebe
immer wieder sehr viel von Gottes liebender Zuwendung und Treue durch:
„Ich bin für dich da.
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.
Du bist mein."
Immer wieder können wir in der Begegnung mit Menschen 
und durch sie letztlich mit Gott erfahren:
„Du nimmst mich an,
Du heilst meine Wunden,
Du vergibst mir,
Du befreist mich dazu, von neuem loszulassen
und voller Hoffnung die Zukunft in den Blick zu nehmen."

Solche Erfahrungen gilt es zu reflektieren,
dafür dankbar zu sein,
das Geschenk der Liebe darin zu spüren
und auf diese Liebe wie selbstverständlich mit Liebe zu antworten.
So bekommt das Liebesgebot Jesu Hand und Fuß.
So verliert es seinen von außen auferlegten „Gebotscharakter".
So wird es zur blanken Selbstverständlichkeit.
So erfüllt es uns mit großer Freude
und schenkt uns eine unversiegbare Lebensenergie.

Amen.