Predigt zum 25. Sonntag im Jahreskreis
am 24. September 2000
Textgrundlage der Predigt  ist der zweite Teil des Sonntagsevangeliums: Mk. 9, 33-37.
P.Heribert Graab S.J.
Sie kennen das Grundgesetz Jesu für das Volk Gottes:
Es ist niedergelegt in der Bergpredigt.
Und die hat eine Präambel: Die Seligpreisungen.
Grundtenor dieser Präambel ist
die Priorität der Kleinen und Zukurzgekommenen,
die „Option für die Armen",
aber auch die Wertschätzung jener, 
die sich selbst klein machen im Dienst am Menschen.
So werden seliggepriesen und gesegnet
nicht nur die Armen, die Trauernden und die Hungernden,
sondern ebensosehr die Barmherzigen und die Friedensstifter.

In Variationen zieht sich die Kernaussage dieser Präambel
wie ein roter Faden durch das ganze Evangelium.
In diesen Kontext gehört auch die Seligpreisung der Kinder:
„Laßt die Kinder zu mir kommen,
denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes."
Nicht nur die Kinder selbst werden selig gepriesen,
sondern ebenso diejenigen, die so klein sind,
oder die sich als Dienende so klein machen wie ein Kind.
„ Wer so klein sein kann wie dieses Kind,
der ist im Himmelreich der Größte."
Die Parallele zur Präambel springt ins Auge.
Dort lautet die Segensverheißung:
„denen gehört das Himmelreich". 

Konsequenterweise lautet umgekehrt die Mahnung Jesu:
„Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet,
könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen." 
Dieses Wort Jesu wird leicht mißverstanden:
Es geht nicht darum, uns ein „kindliches Gemüt" zuzulegen,
noch viel weniger geht es darum, naiv zu sein
oder gar kindisch.
Schon gar nicht geht es um jene „kindliche Reinheit",
die uns moralisierend in der Kirche gepredigt wurde
als Kontrast zu allem, was irgendwie mit Sexualität zu tun hat.

Die Seligpreisung derer, die wie Kinder sind,
ist vielmehr zu verstehen auf dem Hintergrund 
der Herrschaftskritik des Evangeliums:
„Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken
und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen.
Bei euch soll es nicht so sein!
Wer bei euch groß sein will, der soll eurer Diener sein!"
Damit stellt Jesus die damals wie heute übliche Sozialordnung auf den Kopf:
„Welcher von beiden ist größer: 
wer bei Tisch sitzt oder wer bedient?
Natürlich der, der bei Tisch sitzt. 
Ich aber bin unter euch wie der, der bedient."
Die Jünger Jesu taten sich ebenso schwer,
das zu verstehen, wie wir:
Sie stritten untereinander, „wer von ihnen der Größte sei".
Und wie die Jünger damals möchten auch wir heute
möglichst weit oben stehen
auf der Leiter von Erfolg und Karriere.
Wir möchten uns abheben von „denen da unten",
wir möchten etwas gelten und Anerkennung finden,
wir möchten etwas leisten und uns etwas leisten können,
wir möchten Einfluß haben und gehört werden.
Unsere Vorstellungen von „oben" und „unten" sind vollkommen klar.
Und unser Lebensentwurf zielt selbstverständlich nach möglichst weit oben.
Schon unsere Eltern hatten den Wunsch,
daß aus uns einmal „etwas Besseres" werden sollte.
Und genau diesen Wunsch haben wir natürlich für unsere Kinder.

Und nun stellt Jesus das, was uns so selbstverständlich erscheint,
einfach auf den Kopf:
„Wer bei euch der Erste sein will,
soll der Letzte von allen und der Diener aller sein!"
Und er selbst hat‘s vorgemacht:
„Auch der Menschensohn ist nicht gekommen,
um sich bedienen zu lassen,
sondern um zu dienen und sogar sein Leben hinzugeben für viele."
Diese Umkehrung von Hierarchien war ihm so wichtig,
daß er seinen Jüngern noch beim letzten Abendmahl
- sozusagen als Vermächtnis -
eine sinnenfällige Lektion dazu erteilte,
indem er ihnen die Füße wusch - 
wie es damals die Sklaven für ihre Herren taten.
„Wenn nun ich, der Herr und Meister,
euch die Füße gewaschen habe,
dann müßt auch ihr einander die Füße waschen."
Dann müßt ihr auf den Anspruch verzichten,
der Größere zu sein.
Dann müßt ihr euch als Dienende verstehen
und euch ganz klein machen - eben wie ein Kind.

Das hat übrigens nichts mit Lebensverachtung zu tun,
auch nichts mit Verzicht auf Vitalität und Selbstverwirklichung!
Vermutlich haben Sie selbst durchaus schon die Erfahrung gemacht,
daß Sie gerade dann wirklich glücklich sind,
wenn Sie so sehr von einer Aufgabe erfüllt sind,
daß sie alles um sich herum und sich selbst vergessen,
daß Sie überhaupt nicht mehr merken, wie die Zeit vergeht.
So kann uns gerade auch die Begegnung mit einem Menschen fesseln,
mit einem Menschen, der uns braucht:
unser Ohr, unsere Hände, unseren Dienst.
Es ist gewiß nicht immer leicht, 
sich darauf einzulassen.
Aber gerade in solchen Situationen und oft erst im Nachhinein
haben wir nicht selten - wenigstens für einen Augenblick lang -
das Gefühl, daß sich das Leben lohnt.

„Wie ein Kind sein" bedeutet also im Sinne des Evangeliums:
Sich in den Dienst von Kindern stellen;
mehr noch: Sich in der Dienst der „Kleinen" überhaupt stellen,
sich auf ihre Seite schlagen, 
mit ihnen solidarisch sein.
Das heutige Evangelium bringt das sehr konkret zum Ausdruck:
„Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt,
der nimmt mich auf!"
Erinnern Sie sich an die Gerichtsrede Jesu:
Ich war hungrig, ich war durstig,
ich war fremd und obdachlos,
ich war nackt und im Gefängnis,
und ihr habt mir geholfen.
In diese Reihe stellt Jesus die Kinder.
Da steht kein bürgerlich-romantisches Kinderbild dahinter;
vielmehr hat Jesus die vielen Straßenkinder seiner Zeit vor Augen,
die wir allenfalls vom Hörensagen aus den Slums
Indiens oder Lateinamerikas kennen.
Eins von diesen Kindern aufzunehmen - darum geht es.

Auch wenn wir für uns die Latte um einiges niedriger legen,
bleibt auch hier genug zu tun:
Denken Sie an die vielen Kinder,
die in unserer Gesellschaft zu Scheidungsopfer
oder zu Karriereopfern und dadurch nicht selten krank werden,
weil es ihren Eltern um die eigene „Selbstverwirklichung" geht -
im Sinne des Evangeliums darum, selbst „groß" zu sein,
und das auf Kosten anderer - sogar auf Kosten ihrer eigenen Kinder!
Oder denken Sie an die vielen Kinder,
die vor der Glotze verkümmern und auf dumme Gedanken kommen,
weil niemand für sie Zeit hat.
Uns würde Jesus wahrscheinlich sagen:
„Wer sich für seine Kinder wirklich Zeit nimmt,
der nimmt sich Zeit für mich!" 

Und dann sind da all die anderen „Kleinen":
Die „Kleinen" beim Mittagstisch St.Michael,
die „Kleinen" in den Altenpflegeheimen,
die kranken „Kleinen" auch in unseren Kliniken.
Sich für sie Zeit zu nehmen, 
ihnen zu essen zu geben,
sie zu besuchen,
ihnen zuzuhören und mit ihnen ein Gespräch zu führen -
all das gehört im Sinne des Evangeliums seit jeher
zu den Werken christlicher Barmherzigkeit.
Ein Dankeschön und ein Vergelt‘s-Gott all denen,
die sich auch in St.Michael dafür Zeit nehmen.

Zugleich aber möchte ich auch an unsere Defizite 
im Sinne des Evangeliums erinnern:
Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Mittagstisch
sind kaum noch zu finden.
Unser Krankbesuchsdienst ist zusammengeschrumpft auf zwei Leute.
Auch der Altenbesuchsdienst ist viel zu klein
für den Dienst der eigentlich nötig wäre.
Vielleicht lesen Sie zu Hause noch einmal
in aller Ruhe das heutige Evangelium
und lassen sich auf diese oder jene Weise neu motivieren
zum Dienst an den „Kleinen" in unserer großspurigen Zeit.

Amen.