Predigt zum 22. Sonntag im Jahreskreis 
am 03. September 2000
Textgrundlage: Das Evangelium des Sonntags in der Versauswahl Mk. 7, 1 - 13.
P.Heribert Graab S.J.
Jesus wird von seiner Umgebung wahrgenommen 
als ein großer Prophet, 
der in der Mitte seines Volkes aufgetreten ist.
Ein Prophet jedoch ist keineswegs so etwas
wie ein Wahrsager oder Kaffeesatzleser.
Ein Prophet ist vielmehr jemand, der seine Finger
in schwärende Wunden legt;
jemand, der Kritik übt an öffentlichen Zuständen
in Gesellschaft und Kirche.

Im Evangelium des heutigen Sonntags
spricht Jesus als Prophet.
Er wendet sich an Pharisäer und Schriftgelehrte, 
d.h. er wendet sich an fromme, theologisch gebildete 
und engagierte Kreise, 
die religiös und politisch die tragende Schicht 
des Judentums dieser Zeit bilden.

Auf den Anlaß der kritischen Worte Jesu
müssen wir nicht näher eingehen:
Es geht nicht um Hygiene, sondern um rituelle, kultische Reinheit,
in den Augen Jesu um eine reine Äußerlichkeit,
die diese Pharisäer furchtbar wichtig nehmen,
ja sogar zur religiösen Bekenntnisfrage machen.

Und da schlägt nun die massive und substantielle Kritik Jesu
scharf wie ein Blitz ein:
„Es ist sinnlos, wie Ihr Gott verehrt;
was Ihr lehrt, ist nichts anderes als Menschensatzung."
„Ihr gebt Gottes Gebot preis,
Ihr setzt sein Wort außer Kraft,
weil Euch Eure eigenen Überlieferungen wichtiger sind."
„Ihr vernichtet Gottes Wort!"

Eine schärfere oder zentralere Kritik 
an religiös und kirchlich engagierten Menschen,
ja an den von ihnen verantworteten religiösen Institutionen
ist nicht mehr möglich.
Und wir tun gut daran, 
nicht mit dem Finger auf die Pharisäer der Zeit Jesu zu zeigen,
sondern uns selbst den Spiegel vorzuhalten.

Nehmen Sie etwa das konkrete Beispiel des Evangeliums: 
Die vor Gott geschuldete Fürsorgepflicht für die Alten.
Fällt Ihnen da nicht spontan die aktuelle Rentendebatte ein?
Die Pharisäer damals entzogen sich ihren Verpflichtungen
und bedeckten ihre moralische Blöße mit einem religiösen Mäntelchen.
Wir begründen die Aufweichung der Solidarität mit den Alten
durch die viel banaleren Hinweise auf Lohnnebenkosten, 
Arbeitsmarktsituation, Standort Deutschland.
In Wirklichkeit geht es um Single-Mentalität, 
um individualistische Selbstverwirklichung,
um die Aufkündigung verbindlicher Beziehungen.
Dabei geht die Entsolidarisierung den Alten gegenüber
Hand in Hand mit der Entsolidarisierung zukünftigen Generationen gegenüber:
Da heißt es praktisch: Nach uns die Sintflut!
„Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot außer Kraft
und orientiert euch an Denk- und Verhaltensmustern,
die die logische Konsequenz einer seit mehr als zweihundert Jahren
zunehmenden Säkularisierung sind."

Oder schauen Sie auf die aktuelle Diskussion
um Rechtsradikalismus und Gewalt in unserer Gesellschaft:
Wie sehr wir selbst in menschliche und durch Gewalt geprägte 
Überlieferungen verstrickt sind,
zeigt der Ruf nach strengeren Gesetzen, mehr Polizei und härteren Strafen.
Während wir empört sind über die Gewalt auf unseren Straßen,
halten wir TV-Gewalt in unseren Wohnzimmern für selbstverständlich
oder wenigstens für unvermeidlich,
dulden wir bei unseren Kindern Kriegs-Spielzeug, Schießprügel
und gewalterfüllte Videospiele -
nicht selten mit der fragwürdigen Entschuldigung:
„Ist doch ein Junge!"

Wir stecken ganz tief drin in Widersprüchen
und Gottes Wort spielt auch für uns keine Rolle:
„Selig die Friedensstifter!" Und:
„Frieden lasse ich euch zurück;
meinen Frieden gebe ich euch.
Nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch."

Wir selber seid diejenigen,
die das Wort Gottes vernichten!
Ein Beispiel ist auch die Forderung Gottes,
unser Brot mit den Hungernden zu teilen.
Gewiß, wir bringen in absoluten Zahlen und alle zusammen
nennenswerte Beträge z.B. für Misereor auf.
Aber wir täuschen damit auch uns selbst darüber hinweg,
daß in Wirklichkeit von Teilen keine Rede sein kann:
Brot für die Schwestern und Brüder - ja!
Aber das volle Menu mit Vorspeise, Steak, Beilagen und Dessert
behalten wir für uns.

Dann ist da noch dieses Gesetz über homosexuelle Partnerschaften in der Mache:
„Konservative" - das sind ja präzise jene, 
denen menschliche Überlieferungen wichtig sind -
und auch maßgebliche Christen haben schon massiven Widerstand angekündigt.
Aber auch in diesem Zusammenhang muß ja wenigstens die Frage erlaubt sein,
ob nicht menschliche Überlieferungen und althergebrachte Tabus
Gottes Wort aushebeln,
z.B. das Wort „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"

Wenn wir erst einmal anfangen
die Kritik Jesu ernsthaft zu bedenken,
und auf heutige Verhältnisse in Kirche und Gesellschaft zu beziehen,
dann können wir nur erschrecken,
in welchem Ausmaß wir das Wort Gottes zu vernichten pflegen
durch gesellschaftliche Überlieferungen,
Gewohnheiten, Vorurteile, und Moden.

Und erschrecken könnten wir wohl auch,
wenn wir im Licht der Kritik Jesu
unsere ganz persönlichen Lebensentscheidungen reflektieren würden.
Wer von uns fragt denn in den wesentlichen Situationen des Lebens
nach Gottes Wort -
bei der Berufswahl etwa, bei der Eheschließung,
in der Verwaltung unseres Geldes,
in der Einteilung unserer Zeit
oder evtl. auch in der Fürsorge für die alten Eltern.

Seien wir dankbar, daß wir nicht alleine die Kirche sind.
Seien wir dankbar, daß Christus in seiner Kirche lebt
und daß er uns hier und da aufschreckt und im Gewissen beunruhigt.
Diese Gnade des Erschreckens und der Beunruhigung
sei mit uns allen.

Amen.