Doppelansprache zum 32. Sonntag 
im Jahreskreis: 07.11.1999
Zur Lesung: Weisheit 6, 12-16

Dieser Text ist auch für uns heute spannend,
wenn wir ihn auf dem Hintergrund seines kulturellen Kontextes lesen:
Er ist etwa drei Jahrzehnte vor der Zeitenwende entstanden
in der Weltstadt Alexandria.
Er wendet sich an Juden griechischer Muttersprache, 
bewandert nicht nur in der Bibel, 
sondern auch in griechischer Literatur und Philosophie. 

Dieser Text preist Jahwe als die personifizierte Weisheit.
Die aber stellt er dar als eine strahlend schöne und begehrenswerte Frau.
Die Sophia als ein Bild Gottes ist gleichermaßen durch Schönheit und Erotik,
wie auch durch Wissen, Erfahrung und Klugheit charakterisiert.
Sie verkörpert jüdische und hellenistische Weiheitstraditionen,
vor allem jedoch die menschenfreundliche Seite des Gottes Israels.
Zu ihrem Lob bedient sich der Autor
der damals weit verbreiteten Preisungen der Göttin Isis
und der Gebete zu ihr.

Heute in einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft 
kann dieser Text
zum einen ein Beispiel eines interreligiösen und interkulturellen Dialogs sein:
In der Verknüpfung jüdischer und hellenistischer Traditionen
entsteht eine neue Rede vom Göttlichen,
die Verständnis und Verständigung möglich macht
zwischen Menschen, die verschiedenen Kulturen angehören.

Zum anderen führt der Text deutlich vor Augen,
daß biblische Rede vom Göttlichen
neben den dominanten männlichen Bildern und Vorstellungen
auch ein anerkanntes weibliches Gottesbild beinhaltet.
Würden wir etwas mehr das Gottesbild der Weisheit an uns heran lassen,
eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten von Spiritualität -
für Frauen und für Männer.

Zum Evangelium: Mt. 25, 1-13

Wir sind gewohnt, dieses Gleichnis zu verstehen 
im Sinne des geflügelten Wortes:
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!"
Oder auch:
„Wer am Ende mit leeren Händen dasteht, den bestraft das Leben!"

Zugleich ist uns jedoch auch geläufig,
daß dies nicht der Praxis Jesu entspricht:
Jesus wird vielmehr nicht müde,
gerade die Letzten, die Zukurzgekommenen und sogar die Sünder einzuladen.
Dementsprechend müßte das Gleichnis vielmehr so enden:
„Während die törichten jungen Frauen auf dem Weg waren, Öl zu kaufen,
kam der Bräutigam.
Er schaute sich um und sagte:
Ich habe doch Zehn eingeladen - wo sind die anderen Fünf?
Und die klugen jungen Frauen antworteten ihm:
Die hatten nicht genügend Öl für ihre Lampen.
Und nun sind sie unterwegs, um Öl zu kaufen.
Da antwortete ihnen der Bräutigam:
Aber gerade an ihnen ist mir gelegen.
Mit ihnen zusammen möchte ich feiern.
Laßt uns warten, bis sie wieder hier sind.
Da sprachen die fünf klugen jungen Frauen:
Aber wir sind es doch, die auf dich gewartet haben
und bei deiner Ankunft anwesend waren!
Die anderen haben deine Ankunft verpaßt!
Da sagte der Bräutigam:
Nicht darauf kommt es an,
sondern darauf, daß ich auch mit den anderen und gerade mit denen feiern möchte.
Wenn ihr das nicht versteht,
ist es euch freigestellt zu gehen.
Da wandten sich die fünf klugen jungen Frauen von ihm ab 
und gingen ihrer Wege.
Der Bräutigam jedoch ging mit den fünf törichten jungen Frauen in den Hochzeitssaal
und die Tür wurde verschlossen."

Merken Sie, 
daß da ein Zusammenhang besteht
mit dem Verständnis von „Rechtfertigung",
das uns am vergangenen Sonntag beschäftigt hat?
Unserer Leistungsmentalität entspricht ganz und gar
die gängige Interpretation des Gleichnisses:
Alles muß perfekt sein.
Wir müssen perfekt sein.
Es ist nicht erlaubt, Fehler zu machen.
Deshalb tun wir uns schwer, Fehler einzugestehen -
genau wie die törichten jungen Frauen,
die ihren Fehler wettzumachen suchten.

Der Sinn des Gleichnisses könnte jedoch auch sein:
Die fünf Frauen haben töricht gehandelt,
weil sie nicht das Vertrauen aufbrachten,
der Bräutigam könne sich über ihre Anwesenheit freuen,
obwohl sie zu wenig Öl hatten.
Dann entspräche die Kernaussage des Gleichnisses
der frohmachenden Botschaft Jesu:
Meine Liebe und Gottes Zuneigung gehört denen, die eingestehen:
ich bin eine Sünderin, ich bin ein Sünder.
Bereit und wachsam für das Kommen des Reiches Gottes sind die,
die auf Gottes Erbarmen vertrauen und seine Vergebung annehmen.
Amen.