Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (24.10.1999) 
Predigt zu den Schrifttexten des Sonntags: Ex. 22, 20-26 und Mt. 22, 34-40 
Da ist es wieder: Das zentrale Prinzip unseres christlichen Glaubens - das dreifach gefächerte Gebot der Liebe. Das Thema des heutigen Sonntags stößt uns
 natürlich auf einige hochaktuelle Fragen unserer Lebensumwelt heute: 

 Da ist zunächst einmal die Inflation des Wortes „Liebe" in unserer Sprache: Die Medien vor allem überschütten uns förmlich mit diesem Wort. Aber bei näherem
 Hinsehen fällt auf, daß mit der quantitativen Überschwemmung eine qualitative Begriffsverengung einhergeht. „Liebe" bezieht sich fast ausschließlich auf die
 individuelle Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann. Nicht selten wird der Begriff noch weiter eingegrenzt auf ein erotisches oder gar auf ein nur sexuelles
 Verhältnis. Als Christen geraten wir mehr und mehr in einen Erklärungsnotstand, wenn wir die umfassende Bedeutung dessen verständlich machen wollen, was für
 uns „Liebe" bedeutet. 

 Sodann ist da die merkwürdige Spannung, bzw. ein regelrechter Widerspruch zwischen der Inflation des Wortes „Liebe" auf der einen Seite und der vielfach
 beklagten und noch zunehmenden Entwicklung von Individualismus, Selbstverwirklichungsbestreben, Singlementalität und Egoismus auf der anderen Seite. 

 Es legt sich nahe, im Blick auf das heutige Evangelium solche Fragen ausführlicher zu bedenken. Die Kirche jedoch lenkt unsere Aufmerksamkeit an diesem
 Sonntag auf eine andere Dimension dieses Textes: Mit der Auswahl der alttestamentlichen Lesung, die sich immer auf das Evangelium bezieht, gibt sie uns eine
 Interpretationshilfe, die ihr offenkundig sehr am Herzen liegt.  

 Der Kirche geht es um soziale Gerechtigkeit, ohne die auch für Jesus Liebe undenkbar ist. Beispielsweise werden im Text der heutigen Lesung herausgegriffen: die
 Fremden, die Witwen und Waisen, die Armen.  

 Heute müßte man wohl - wie damals - die Flüchtlinge (auch die Kriegsflüchtlinge, die Hunger- oder Wirtschaftsflüchtlingeflüchtlinge!) nennen. Und man müßte -
 wie damals - hinzufügen: Ihr habt es doch - und das liegt gar nicht so lange zurück - selbst erfahren. Wenn ihr die Not an eurem eigenen Leibe schon so schnell
 vergessen habt, wie werdet ihr euch dann wohl verhalten gegen Menschen, deren Not ihr selbst in eurem Wohlstand nie kennengelernt habt. 

 Weiter müßten genannt werden (Witwen und Waisen) Alleinerziehende, Kleinrentner, aber auch kinderreiche Familien. Genannt werden müßten Scheidungswaisen
 und Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben. In Göttingen sind das etwa 120 - und die allermeisten kommen aus „kaputten" Familien! 

 Ebenfalls müßten - wie damals - die Schuldner genannt werden, die (aus welchem Grunde auch imer!) alles verloren haben. Bei uns wird jemand, der verschuldet
 oder unverschuldet in die Spirale von Schulden, sozialer Ausgrenzung und dadurch vielleicht in Kriminalität und Drogen geraten und schließlich auf der Straße
 gelandet ist, selber dafür verantwortlich gemacht. Schnell ist dann auch die Rede vom „Sozialschmarotzertum". Vergessen sind dann jene sozialen Strukturen und
 Verflechtungen, die zu diesem Schicksal geführt haben.  

 „Gleiches Recht für alle!" ist kein biblischer Grundsatz! Schon das Alte Testament und erst recht Jesus selbst sind parteiisch! Sie stehen eindeutig auf der Seite
 derer, die unter die Räder geraten sind. Ihnen vor allem und ihren schlechteren Bedingungen müssen wir in unserem persönlichen Handeln und vor allem auch mit
 unserer Politik gerecht werden. Da kann nicht dieser Spruch vom „Gleichen Recht für alle" gelten; da geht es um eine „Gerechtigkeit mit menschlichem Antlitz".  

 Werfen wir noch einen Blick auf die Ausstellung in unserer Kirche, die uns Pater Friedrich von Spee vorstellt. Er hat diese Gerechtigkeit mit menschlichem Antlitz
 bis zur Selbstaufgabe gelebt. Es reichte ihm nicht, sich als Seelsorger und caritativ dem einzelnen Menschen in Not zuzuwenden. Das hat er auch getan - bis zum
 Geht-nicht-mehr: Er hat zum Feuertod verurteilte Hexen oft und oft im Kerker besucht und sie zum Richtplatz begleitet. Er hat Pestkranke gepflegt, bis er selbst der
 Pest erlag. Aber gerade auf dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen kam er zur Erkenntnis, daß politisch etwas geschehen müßte, daß Aberglaube und
 gesellschaftliche Vorurteile ausgerottet werden müßten, daß die gesellschaftlichen Strukturen und das Recht selbst grundlegend verändert werden müßten. Und
 dann hat er sich hingesetzt und das getan, was er politisch tun konnte: Er hat die „Cautio criminalis" geschrieben. Wie gefährlich das war, wird schon deutlich an der
 Tatsache, daß diese politische Schrift zunächst anonym erscheinen mußte. Aber Friedrich Spee hat sich nicht achselzuckend darauf zurückgezogen, daß „man ja
 sowieso nichts machen könne". 

 Nehmen wir von diesem Sonntag mit nach Hause etwas von seinem Verständnis von Liebe und Gerechtigkeit und vielleicht die grundsätzliche Erkenntnis, daß
 Liebe eine politische Dimension hat, und daß Liebe auch bedeutet „Gerechtigkeit mit einem menschlichen Antlitz". 

 Amen.