Da ist es wieder: Das zentrale Prinzip unseres christlichen Glaubens
- das dreifach gefächerte Gebot der Liebe. Das Thema des heutigen
Sonntags stößt uns
natürlich auf einige hochaktuelle Fragen unserer Lebensumwelt
heute:
Da ist zunächst einmal die Inflation des Wortes „Liebe" in
unserer Sprache: Die Medien vor allem überschütten uns förmlich
mit diesem Wort. Aber bei näherem
Hinsehen fällt auf, daß mit der quantitativen Überschwemmung
eine qualitative Begriffsverengung einhergeht. „Liebe" bezieht sich fast
ausschließlich auf die
individuelle Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann. Nicht
selten wird der Begriff noch weiter eingegrenzt auf ein erotisches oder
gar auf ein nur sexuelles
Verhältnis. Als Christen geraten wir mehr und mehr in einen
Erklärungsnotstand, wenn wir die umfassende Bedeutung dessen verständlich
machen wollen, was für
uns „Liebe" bedeutet.
Sodann ist da die merkwürdige Spannung, bzw. ein regelrechter
Widerspruch zwischen der Inflation des Wortes „Liebe" auf der einen Seite
und der vielfach
beklagten und noch zunehmenden Entwicklung von Individualismus,
Selbstverwirklichungsbestreben, Singlementalität und Egoismus auf
der anderen Seite.
Es legt sich nahe, im Blick auf das heutige Evangelium solche
Fragen ausführlicher zu bedenken. Die Kirche jedoch lenkt unsere Aufmerksamkeit
an diesem
Sonntag auf eine andere Dimension dieses Textes: Mit der Auswahl
der alttestamentlichen Lesung, die sich immer auf das Evangelium bezieht,
gibt sie uns eine
Interpretationshilfe, die ihr offenkundig sehr am Herzen liegt.
Der Kirche geht es um soziale Gerechtigkeit, ohne die auch für
Jesus Liebe undenkbar ist. Beispielsweise werden im Text der heutigen Lesung
herausgegriffen: die
Fremden, die Witwen und Waisen, die Armen.
Heute müßte man wohl - wie damals - die Flüchtlinge
(auch die Kriegsflüchtlinge, die Hunger- oder Wirtschaftsflüchtlingeflüchtlinge!)
nennen. Und man müßte -
wie damals - hinzufügen: Ihr habt es doch - und das liegt
gar nicht so lange zurück - selbst erfahren. Wenn ihr die Not an eurem
eigenen Leibe schon so schnell
vergessen habt, wie werdet ihr euch dann wohl verhalten gegen
Menschen, deren Not ihr selbst in eurem Wohlstand nie kennengelernt habt.
Weiter müßten genannt werden (Witwen und Waisen) Alleinerziehende,
Kleinrentner, aber auch kinderreiche Familien. Genannt werden müßten
Scheidungswaisen
und Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben. In
Göttingen sind das etwa 120 - und die allermeisten kommen aus „kaputten"
Familien!
Ebenfalls müßten - wie damals - die Schuldner genannt
werden, die (aus welchem Grunde auch imer!) alles verloren haben. Bei uns
wird jemand, der verschuldet
oder unverschuldet in die Spirale von Schulden, sozialer Ausgrenzung
und dadurch vielleicht in Kriminalität und Drogen geraten und schließlich
auf der Straße
gelandet ist, selber dafür verantwortlich gemacht. Schnell
ist dann auch die Rede vom „Sozialschmarotzertum". Vergessen sind dann
jene sozialen Strukturen und
Verflechtungen, die zu diesem Schicksal geführt haben.
„Gleiches Recht für alle!" ist kein biblischer Grundsatz!
Schon das Alte Testament und erst recht Jesus selbst sind parteiisch! Sie
stehen eindeutig auf der Seite
derer, die unter die Räder geraten sind. Ihnen vor allem
und ihren schlechteren Bedingungen müssen wir in unserem persönlichen
Handeln und vor allem auch mit
unserer Politik gerecht werden. Da kann nicht dieser Spruch vom
„Gleichen Recht für alle" gelten; da geht es um eine „Gerechtigkeit
mit menschlichem Antlitz".
Werfen wir noch einen Blick auf die Ausstellung in unserer Kirche,
die uns Pater Friedrich von Spee vorstellt. Er hat diese Gerechtigkeit
mit menschlichem Antlitz
bis zur Selbstaufgabe gelebt. Es reichte ihm nicht, sich als
Seelsorger und caritativ dem einzelnen Menschen in Not zuzuwenden. Das
hat er auch getan - bis zum
Geht-nicht-mehr: Er hat zum Feuertod verurteilte Hexen oft und
oft im Kerker besucht und sie zum Richtplatz begleitet. Er hat Pestkranke
gepflegt, bis er selbst der
Pest erlag. Aber gerade auf dem Hintergrund seiner persönlichen
Erfahrungen kam er zur Erkenntnis, daß politisch etwas geschehen
müßte, daß Aberglaube und
gesellschaftliche Vorurteile ausgerottet werden müßten,
daß die gesellschaftlichen Strukturen und das Recht selbst grundlegend
verändert werden müßten. Und
dann hat er sich hingesetzt und das getan, was er politisch tun
konnte: Er hat die „Cautio criminalis" geschrieben. Wie gefährlich
das war, wird schon deutlich an der
Tatsache, daß diese politische Schrift zunächst anonym
erscheinen mußte. Aber Friedrich Spee hat sich nicht achselzuckend
darauf zurückgezogen, daß „man ja
sowieso nichts machen könne".
Nehmen wir von diesem Sonntag mit nach Hause etwas von seinem
Verständnis von Liebe und Gerechtigkeit und vielleicht die grundsätzliche
Erkenntnis, daß
Liebe eine politische Dimension hat, und daß Liebe auch
bedeutet „Gerechtigkeit mit einem menschlichen Antlitz".
Amen. |