Predigt zum Dreifaltigkeitssonntag
am 15. Juni 2014
Bildbetrachtung der Miniatur "Die wahre Einheit in der wahren Dreiheit" aus "Scivias" von Hildegard von Bingen nach dem Ruppertsberger Codex (um1180).
Autor: P.Heribert Graab S.J. in Anlehnung an eine entsprechende Bildbetrachtung von Heinz Detlef Stäps in "Magnificat" Juni 2014, Verlag Butzon & Bercker Kevelaer.
Siehe auch die Predigten dieser Seite zum Dreifaltigkeitssonntag 2005 und 2010.
Am Oktavtag von Pfingsten
- sozusagen als Abschluß des ganzen Jahresfestkreises -
feiert die Kirche den letzten Grund
und die Quelle aller christlichen Feste:
Das innerste Wesen Gottes selbst,
das Fest der Allerheiligsten Dreifaltigkeit.

Wir rühren damit an das tiefste Geheimnis Gottes
und stoßen an die äußerste Grenze menschlichen Fassungsvermögens.
Dennoch gibt es unendlich viele Versuche,
dieses Geheimnis aller Geheimnisse zur Sprache zu bringen
und sich diesem Geheimnis durch Bilder und Symbole zu nähern.

Ich möchte Sie heute einladen,
mit mir eines der ehrfürchtigsten Bilder
der göttlichen Dreifaltigkeit zu betrachten.
Dieses Bild geht zurück auf eine Vision der hl. Hildegard von Bingen.
Als Miniatur schmückt es den Ruppertsberger Codex
der berühmten Schrift „Scivias“ (Wisse die Wege) der Heiligen.
Entstanden ist dieser Codex und damit auch die Miniatur um 1180.


Vermutlich wird Ihr Blick zu allererst gefangen
von dem Bild des Menschen im Zentrum.
Der Mensch im Zentrum des göttlichen Geheimnisses?
Genau das haben wir in den vergangenen Monaten
Schritt für Schritt gefeiert:
Angefangen von der ‚Verkündigung des Herrn‘,
also von Seiner Menschwerdung,
über Seine Geburt zu Bethlehem,
über Sein öffentliches Wirken in Galiläa und Judäa,
bis hin zu Seiner Passion, zur Auferstehung am Ostermorgen,
zur Himmelfahrt und zur Geistsendung am Pfingsttag.
Immer wieder bekennen wir im Credo die Menschwerdung Gottes:
„Jesus Christus - Gott von Gott, Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott…
eines Wesens mit dem Vater…
für uns Menschen und zu unserem Heil
ist er vom Himmel gekommen,
hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist
von der Jungfrau Maria
und ist Mensch geworden…“

Betrachten wir einen Augenblick diese Menschengestalt -
•    sie ist uns zugewandt und bringt zum Ausdruck,
    daß genau dies zum Wesen Gottes gehört:
    Sein Zuwendung zu uns, Seine Nähe, Seine Liebe…
•    die Hände sind offen - nicht abwehrend, sondern segnend…
•    diese Gestalt könnte einen Mann ebenso darstellen wie eine Frau:
Gott ist ‚Mensch‘ geworden – nicht in erster Linie ‚Mann‘…

Umfangen ist diese Menschengestalt von zwei Kreisen, bzw. Ringen:

•    Der äußere Ring ist leuchtend silberfarben.
In der Schilderung Hildegards heißt es dazu:
„Du siehst ein überhelles Licht.
Makellos, ohne Abstrich und Minderung und Täuschung
sinnbildlicht es den Vater.“
Dieses Licht des Vaters erstrahlt über dem gesamten Kosmos;
der blaue Himmel wird durch dieses Licht erleuchtet,
und zugleich überlappt dieser Lichtkreis
auch den mit Blütenmotiven geschmückten Rahmen –
möglicherweise eine Andeutung unserer Lebenswelt auf der Erde.
Sodann fällt auf, daß das silberfarbene Licht
zugleich die Menschengestalt in der Mitte ganz umfängt.

•    Der äußere Ring umgibt in seinem Inneren
eine rotgolden schimmernde, kreisrunde Fläche.
Hildegard spricht von einer im sanften Rot funkelnden Lohe.
„Makellos, ohne die Dürre finsterer Sterblichkeit
weist sie auf den Heiligen Geist.“
Wie der Lichtkreis, so ist auch die feurige Lohe
von kreisförmigen Wellenlinie durchzogen:
Gott ist in sich nicht statisch;
vielmehr ist Er erfüllt von Bewegung.
Strömendes Leben erfüllt Ihn.
Die Liebe, die Vater, Sohn und Geist verbindet,
strömt in Ihm, bis sie überfließt
und sich über den Menschen ergießt.
Auch dafür steht wohl die Menschengestalt in der Mitte:
Gott bleibt nicht in sich selbst abgeschlossen,
sondern übersteigt sich selbst in der Liebe,
die das innerste Leben der Trinität ist,
und die Er - aus sich schöpfend - den Menschen schenkt.

•    Hildegard fährt in ihrer Schilderung fort:
„Daß aber das helle Licht ganz die funkelnde Lohe,
und die funkelnde Lohe ganz das helle Licht,
und daß beide, das helle Licht und die funkelnde Lohe,
ganz die Menschengestalt durchfluten,
alle drei als ein Licht wesend in einer Kraft und Macht,
das bedeutet, daß der Vater nicht ohne den Sohn
und den Heiligen Geist ist.“
Vater, Sohn und Geist – „wahre Einheit in der wahren Dreiheit“.

•    Ein letzter Gedanke, zu dem diese Vision und die Miniatur
des dreieinen und zugleich dreifaltigen Gottes anregt:
Im Blick auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus
vergessen wir leicht,
daß Gott unser Menschsein unendlich übersteigt,
daß Er der ganz andere ist und bleibt.
So sehr wir auch durch Seine Menschwerdung erfahren,
was unser Menschsein bedeutet,
welche Konsequenzen sich daraus ergeben
und welche Würde jedem Menschen innewohnt -
ebenso sehr dürfen und müssen wir uns
vor der Herrlichkeit Gottes tief verneigen.
Gott hat sich uns Menschen fürwahr in Jesus Christus erschlossen;
dennoch kann auch die klügste Theologie
Ihn nicht wirklich fassen und begreifen.
So sollten wir mit dem Lieddichter Paul Gerhardt beten:
„Und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.“

Amen.