Predigt zum 20. Sonntag im Jahreskreis (A)
am 17. August 2008 in St.Peter, Köln
Evangelium:  Mt. 15, 21 - 28
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Für mich persönlich hat dieses Evangelium
eine ganz zentrale Bedeutung
•    für meinen Glauben,
•    für das Bild, das ich von Jesus habe
•    und nicht zuletzt für mein Verständnis von Kirche.

1)    Zunächst einmal begegnet uns in diesem Evangelientext
ein Jesus, der lernfähig ist.
Für viele von uns - vor allem aus der älteren Generation -
ist das unvorstellbar:
Wir haben gelernt: Jesus ist Gott;
in Ihm ist Gott selbst Mensch geworden.
Und Gott ist schließlich allwissend.
Wie soll Er lernen können? Er weiß doch alles!

„Gott ist der unbewegte Beweger," heißt es.
In Ihm verändert sich nichts -
weil Er die Fülle des Seins schlechthin ist.
Hinzulernen können aber bedeutet doch gerade
Sich-verändern-können, Sich-weiterentwickeln-können.

Das Wort vom „unbewegten Beweger"
ist sicher zutreffend für die Göttliche Natur in ihrer Ewigkeit.
In Jesus von Nazareth jedoch ist Gott ganz und gar Mensch geworden -
in allem uns gleich außer der Sünde.
Gott ist Mensch geworden
in eine konkrete Zeit hinein,
unter ganz bestimmten historischen und kulturellen Bedingungen.
Selbstverständlich hat Er das Wissen Seiner Zeit
in sich aufgenommen,
und auch die religiösen Traditionen Seines Volkes,
die Seine Umwelt prägten.

So war Er beispielsweise davon überzeugt,
daß die Offenbarung Gottes ausschließlich Seinem Volk galt -
dem auserwählten Volk, mit dem Gott Seinen Bund geschlossen,
und dem Er Seine Verheißungen zugesagt hatte.
Und ausgerechnet eine kananäische Frau
bringt diese Überzeugung ins Wanken!

Mag sein, daß Er sich in diesem Moment an Jesaja erinnert:
„Alle Enden der Erde sehen das Heil unseres Gottes." (Jes. 52:10).
Vielleicht kommt Ihm auch das Motiv der Völkerwallfahrt in den Sinn:
„Am Ende der Tage wird es geschehen:
Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet
als höchster der Berge; er überragt alle Hügel.
Zu ihm strömen die Völker." (Mi. 4:1)

Jedenfalls lernt Er in dieser Begegnung mit der kananäischen Frau:
Gottes Heilsbotschaft, die mir aufgetragen ist,
gilt nicht nur dem einen Volk Israel,
sie gilt vielmehr auch dieser Kananäischen Frau
und überhaupt allen Völkern und allen Menschen.

Vielleicht erkennt Er in diesem Augenblick sogar:
Die Offenbarung Gottes ist
ein in der Menschheitsgeschichte wachsender Prozeß.
Die Offenbarung Gottes entfaltet sich Schritt für Schritt
zunächst in Israel und in der Geschichte dieses Volkes,
dann aber - von hier ausgehend - hinein
in alle Völker und Kulturen aller Zeiten.
Gottes Offenbarung ist ein geschichtlicher Prozeß,
der dazu herausfordert,
immer wieder neu zu „lernen".

Für uns heute bedeutet das:
Auch wir und die ganze Kirche und die ganze Menschheit
müssen immer wieder neu lernen,
was Gottes Offenbarung heute und hier bedeutet,
was Gott uns in dieser Zeit
und in den verschiedenen Kulturen unserer Zeit
und unter ständig sich verändernden Bedingungen sagen will.

Es ist gewiß unbestritten,
daß Gottes Offenbarung in Seiner Menschwerdung,
in Jesus Christus endgültig und unwiderruflich „abgeschlossen" ist.
Aber was heißt das?

In Jesus Christus ist Gott uns in Seiner ganzen Fülle erschienen.
Die Erkenntnis dieser „Fülle" der Göttlichen Selbstoffenbarung jedoch
ist längst noch nicht an ein Ende gekommen.
Kein Mensch, keine Kultur und keine Zeit
kann diese Fülle ganz und gar ausschöpfen.
Im Gegenteil:
In der Geschichte der Kirche und der Theologie
gerät immer wieder auch der ein oder andere Aspekt
bereits erkannter „Wahrheit" in Vergessenheit.
Der findet sich dann irgendwann
in alten, verstaubten Schriften wieder,
oder gar im Evangelium selbst.
Das lesen und hören wir zwar immer wieder,
und die Kirche hat es zu allen Zeiten gelesen, gehört und ausgedeutet.
Aber auch dafür gilt,
was wir an einem der letzten Sonntage gehört haben:
„Sie sehen und sehen doch nicht;
sie hören und hören doch nicht
und sie verstehen nichts." (Cf. Mt. 13:13)

Wenn wir also irgendwann alte Erkenntnisse wieder neu entdecken,
dann löst das unter Umständen eine große Freude aus -
durchaus vergleichbar der Freude jener Witwe im Gleichnis Jesu,
die ihre verlorene Drachme wiederfindet. (Lk. 15:8 f)
So könnte es uns auch ergehen,
wenn wir das heutige Evangelium mit neuen Ohren hören
und mit neuen Augen lesen.

Aber natürlich geht es nicht nur um diesen einen Text.
Es geht um unseren Glauben insgesamt:
Auch unter veränderten Bedingungen unseres ganz persönliche Lebens
sollten wir unseren Glauben immer wieder mit neuen Augen sehen
und immer wieder neu lernen,
in welche Richtung er sich entfalten kann und muß.
Ein Glaube, der nicht mehr lernfähig ist,
ist letztlich ein toter Glaube.

2)    Vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
haben in der katholischen Kirche etliche Frauen
- und Gott-sei-Dank auch einige Männer -
damit begonnen, die Heilige Schrift mit neuen Augen zu lesen -
nämlich ganz bewußt mit den Augen von Frauen unserer Zeit.

Für die feministische Theologie
wurde unser Evangelium heute zu einem Schlüsseltext.
In der patriarchalisch geprägten Umwelt,
in der Jesus lebte,
und in der auch die Evangelien niedergeschrieben wurden,
ist es ja ganz und gar nicht selbstverständlich,
daß ausgerechnet eine Frau, zudem noch eine „Heidin"
als „Lehrmeisterin" Jesu vorgestellt wird.

Und in einer schon sehr früh
wiederum patriarchalisch geprägten Kirche
war es - wenn überhaupt - allenfalls nachvollziehbar,
daß Maria als Gottesmutter eine Lehrmeisterin Jesu war,
obwohl auch sie eher als „Schülerin" ihres Sohnes gesehen wurde.
So hat man lange diese kananäische Frau als Lehrmeisterin Jesu
glattweg übersehen, sooft man ihre Geschichte auch las.

Heute ist die feministische Theologie
aus ihren Kinderschuhen herausgewachsen,
und viele ihrer „neuen" oder wiederentdeckten Erkenntnisse
sind zum Allgemeingut der Theologie geworden.
Dennoch dürfte es noch ein langer Weg sein,
bis die Kirche aus diesen Erkenntnissen
auch praktische Konsequenzen zieht;
bis Gestalten wie diese kananäische Frau,
oder wie eine Maria von Magdala, die „apostola apostolorum",
die Verkündigerin der Botschaft des Ostermorgens,
oder auch eine Martha von Betanien,
jene Theologin vom Rang eines Petrus
zu „Lehrmeisterinnen" der Kirche
bis in deren gelebte Praxis hinein werden.

3)    Es lohnt sich, noch einen Blick zu werfen auf die Art und Weise,
in der die kananäische Frau Jesus begegnet:
Selbstverständlich ist auch sie
von den Gepflogenheiten ihrer Umgebung geprägt.
Einen so bedeutenden Rabbi anzusprechen,
erfordert Mut - zumal für eine Frau.
Ihm gar zu widersprechen, ist nahezu unerhört.
Diese Frau jedoch gibt nicht auf -
selbst als sie sich zunächst eine Abfuhr einhandelt.

Vermutlich hat das Wort „Hund" in der Bildrede Jesu
nicht jenen beleidigenden Charakter,
den es bei uns hätte.
Als Schmeichelei wird es jedoch auch bei dieser Frau
nicht angekommen sein.
Sie braust dennoch nicht auf, wird nicht ärgerlich
und protestiert nicht lautstark.
Sie reagiert vielmehr zugleich schlagfertig
und ausgesprochen diplomatisch.
Sie greift in ihrer Gegenrede das Bild Jesu auf,
beginnt mit einer „captatio benevolentiae"
- „Ja, Du hast recht, Herr!" -
und wendet dann das Bild in ihrem Sinne um.
Sie argumentiert nicht grundsätzlich und allgemeingültig,
sondern sehr psychologisch „ad hominem" -
also unmittelbar bezogen auf ihr Gegenüber, auf Jesus.
Und genau damit löst sie Sein Umdenken aus,
jenen Lernprozeß des „großen Meisters".

Vermutlich wäre es sehr hilfreich,
auch in der Kirche von dieser Frau zu lernen.
Die „Protestanten" der Reformationszeit
hatten gewiß viele sehr berechtigte Kritikpunkte.
Ihr Protest jedoch führte zur Kirchenspaltung.
Erst sehr viel später weckten ihre Anliegen
auch Einsicht in der Kirche -
das allerdings nur sehr allmählich und in sehr kleinen Schritten.

Es gibt eine weise Regel zum zwischenmenschlichen Umgang:
„Schlage einem anderen deine Kritik
nicht wie ein nasses Handtuch um die Ohren,
sondern halte sie ihm nach Kavaliersart hin
wie einen Mantel, so daß er einfach hineinschlüpfen kann." 

Genau nach dieser Regel reagiert die kananäische Frau.
Genau nach dieser Regel sollten auch wir
unsere Kritik in der Kirche vorbringen.
Anlässe dafür gibt es sicher mehr als genug.
Protest und Demos mögen hier und da durchaus angebracht sein.
Erfolg haben sie jedoch gerade in der Kirche selten.
Schließlich haben wir es in der konkreten Kirche mit Menschen zu tun.
Und die bringt man durch Protest eher gegen sich auf, als zur Einsicht.

Das hat die kananäische Frau sehr gut verstanden.
Das zu verstehen, stünde auch uns gut an.

Amen.