Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis (A)
am 6. November 2005
Nichtbiblische Lesung:  Die Fabel "Frederick" von Leo Lionni
Weish. 6, 12 - 16
Evangelium: Mt. 25, 1 - 13
Autor: P. Heribert Graab S.J.
„Mäuse" gibt‘s in unserer Welt en masse.
Mäuse sind „kluge" Tiere,
oder sagen wir besser: Sie sind „clever".
Wer schon einmal Mäuse in der Speisekammer hatte,
weiß, daß die sehr wohl Mittel und Wege „wissen",
genau an das heranzukommen,
was sie zum Lebensunterhalt brauchen.

Auch von dieser Sorte Menschen gibt‘s enorm viele.
Die wissen haargenau,
•    wie sie am besten über die Runden kommen,
•    wie sie ihre Schäfchen ins Trockene bringen.

Sie haben das notwendige theoretische und praktische Wissen,
•    um Erfolge zu haben,
•    um an ihrer Karriere zu basteln,
•    um ein angenehmes Leben zu führen,
•    auch um genau zu den „Hochzeiten"
    und zu anderen Festivitäten eingeladen zu werden,
    von denen man spricht, und die Gelegenheit geben,
    die notwendigen „Beziehungen" zu pflegen.

Nicht wenige Eltern sind darum bemüht,
ihren Kindern das dementsprechende Wissen mit auf den Weg zu geben.
Die Bildungspolitik hat übrigens nichts anderes im Sinn:
Auch da geht es um Wissensvermittlung
als Voraussetzung für den privaten „Erfolg" des Einzelnen
und als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg
des ganzen Gemeinwesens.

Dementsprechend erfaßt die ganze Nation tiefes Erschrecken,
wenn eine Pisastudie abgrundtiefe Defizite des Wissens aufdeckt.
Wer aber ist schon einmal auf die Idee gekommen,
mit Hilfe einer Pisastudie die „Weisheit" in unserer Gesellschaft
auf den Prüfstand zu stellen ???
Das mögliche Ergebnis malen Sie sich am besten selber aus!
Exemplarische Studienobjekte gibt‘s genug -
schauen Sie nur auf die aktuelle Innenpolitik und deren Akteure
angefangen vom Wahlkampf
bis hin zum drum und dran der Koalitionsverhandlungen.

Vielleicht fällt Ihnen dabei sogar ein,
daß es einmal Zeiten gab,
in denen „Weisheit" als Voraussetzung galt
für die Regierung eines Staates.
Lang, lang ist‘s her!

Präzise um Weisheit jedoch geht es in den Lesungen des heutigen Tages.
Und Weisheit ist wesentlich mehr als Wissen,
wesentlich mehr auch als „Cleverneß"
und erst recht wesentlich mehr als „Gerissenheit".
In der Bibel gibt es eine ganze Bibliothek von Büchern,
die unter dem Namen „Weisheitsliteratur" zusammengefaßt werden.
Das Buch der Weisheit, aus dem die Lesung genommen ist,
ist nur eines von diesen vielen Büchern,
die auch das Neue Testament geprägt haben -
nicht zuletzt die Predigt Jesu
und zum Beispiel das Gleichnis von den jungen Frauen,
das wir heute als Evangelium gehört haben.

Was versteht die Heilige Schrift unter „Weisheit"?
Zunächst kann man sagen, es gehe darum,
die ganze Wirklichkeit des Menschen und der Schöpfung
zu erkennen und ernstzunehmen.
Das heißt dann auch,
das Verhältnis der Dinge untereinander und zum Ganzen
in den Blick zu nehmen,
und die allem innewohnende Letztbestimmung zu erkennen.

Anders ausgedrückt:
„Weisheit" heißt, Gottes Schöpfungsordnung
in dieser Welt zu erkennen,
und dann auch im eigenen Leben
und im eigenen Lebensumfeld zu realisieren.

Im biblischen Verständnis hat „Weisheit" eine unmittelbare Nähe zu Gott.
Das Buch der Sprüche - auch ein Teil der Weisheitsliteratur -
läßt die Weisheit selbst zu Wort kommen:
Sie sagt: „Der Herr hat mich geschaffen im Anfang seiner Wege,
noch vor seinen Werken in der Urzeit;
in frühester Zeit wurde ich gebildet,
am Anfang, beim Ursprung der Erde...
Als er den Himmel baute, war ich dabei,
als er den Erdkreis abmaß über den Wassern...
Ich war seine Freude Tag für Tag
und spielte vor ihm allezeit.
Ich spielte auf seinem Erdenrund,
und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein." (Spr. 8,22-31)

Auf diesem Hintergrund ist das Sprichwort zu sehen:
„Der Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht" -
wobei „Gottesfurcht" meint:
ehrfürchtig-liebevoll und bewundernd auf Gott hinzuschauen
und sich an Ihm zu orientieren - in allem, was ich denke und tue.
So - meint die Bibel - könne das Leben gelingen,
und zwar nur.so!

Sie merken: Von dieser Weisheit sind wir weit entfernt.
Die Fabel von den Mäusen macht das überdeutlich:
In unserer „Leistungsgesellschaft" ist dieser Frederick
eine ärgerliche Witzfigur.
Dieser Frederick würde jede Pisastudie verderben -
obwohl oder gerade weil er das Ganze im Auge hat
und all den Bemühungen seiner Kollegen genau das hinzufügt,
worauf es letztlich ankommt.

Ich möchte das, worauf es ankommt, aus biblischer Perspektive
noch einmal mit anderen Worten sagen:
•    Es geht um eine Bildung des Geistes und des Herzens;
•    es geht um eine Einsicht in die Ordnung Gottes
    und um entsprechendes Verhalten;
•    es geht um das Studium der Gebote Gottes
    und um eine Leben in Gerechtigkeit.

Diese Lebenskunst und diese Grundhaltungen gilt es,
zu erlernen und sozusagen wie „Vorräte" zu sammeln
für ein nach und nach sich erfüllendes Leben
und schließlich für die Vollendung dieses Lebens.

Noch einmal ein altes Sprichwort
- in solchen Sprichwörtern steckt vielfach die Weisheit von Generationen:
„Wer die Weisheit freien will,
muß sie jung lieben."
Natürlich lenkt dieses Sprichwort
unsere Aufmerksamkeit auf unsere Erziehungskonzepte
sowohl in unseren Familien, als auch in der Gesellschaft.

Aber noch einen anderen Gesichtspunkt legt dieses Sprichwort nahe:
Als Gerichtsgleichnis könnte das heutige Evangelium
auch als Drohung gelesen werden
und die „verschlossenen Türen" könnten uns Angst machen.
Aber genau darum geht es nicht!
Das Gleichnis will uns nicht entmutigen,
sondern uns allenfalls die Augen öffnen für das,
worauf es im Hinblick auf das Gelingen unseres Lebens ankommt.

Auf dem Hintergrund der biblischen Weisheit
drückt es uns kein mühsames und freudloses Pflichtprogramm auf‘s Auge.
Vielmehr verheißt es uns eine „Liebe auf den ersten Blick",
wenn wir uns nur einmal die Augen öffnen ließen.
Begegnung mit der Weisheit ist eine prickelnde Begegnung
wie die Begegnung mit einer attraktiven und liebreizenden Frau.

Amen.