Predigt zu Fronleichnam am 30. Mai 2002
Lesung: Dtn. 8, 2-3 und 14-16a; Evangelium: Joh. 6, 51-58. 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Das hat mich fasziniert heue morgen:
Bei herrlichem Wetter das bunte Bild der Prozession,
eine von Herzen frohe 
und durch und durch friedliche Demonstration des Glaubens:
mehrere Tausend Christen in einer großen Gemeinschaft vereint -
und das in einer Stadt wie Göttingen,
die ich nicht von ungefähr hier und da eine „heidnische" Stadt nenne.

Natürlich habe ich auch noch andere Erinnerungen
an Fronleichnamsprozessionen:
Viele Menschen am Weg,
die mitbeten und mitsingen
und die beim Herannahen des Allerheiligsten
in Ehrfurcht still stehen oder gar niederknien;
geschmückte Hausaltärchen in vielen Fenstern und Türen
am Weg der Prozession entlang.
Heute morgen zog unsere Prozession statt dessen
durch lange Reihen geparkter Autos.

Diese Erfahrung wurde mir zum Sinnbild
jener Welt, in der der christliche Glaube
alles andere als selbstverständlich ist,
in der er aber um so dringlicher als Sauerteig not-wendig ist -
und das im ganz und gar wörtlichen Sinne:

In dieser Welt stehen die Autos als Symbole
nicht nur für einen legitimen Wohlstand,
sondern auch für die neuen Götzen dieser Zeit,
die schlicht materialistisch sind.
Schüler der BBS II haben heute morgen 
die Station am Eichendorffplatz gestaltet.
Sie stellen uns alle mit ihren Texten und Impulsen
vor die Alternative „Monetik oder Ethik",
„Geld oder Moral".
Die Glaubens-ver-suche am nächsten Donnerstag
stellen die Frage, ob das wohl stimmt:
„Europa kommt - der Glaube geht."
Heute morgen hieß das Motto der Prozession:
„Eine Seele für Europa".

Genau darum geht es:
Das heutige Europa ist entstanden aus einer Wirtschaftsgemeinschaft,
und Europa ist auch jetzt noch vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft.
Um dieser Wirtschaftsgemeinschaft und ihres Wohlstandes willen
drängen so viele Staaten in die EU.
Gemeinwohl jedoch und soziale Gerechtigkeit
und deren geistige Wurzeln im christlichen Glauben
geraten im Westen mehr und mehr ins Hintertreffen,
haben bisher in den Grundlagenverträgen der EU
kaum einen Niederschlag gefunden,
und wären doch sowohl für unsere Gesellschaft hier,
als auch für die Gesellschaften der Anwärterstaaten
das eine Notwendige!

Seit einiger Zeit wird in Brüssel an einer Europäischen Constitution,
an einer Art Grundgesetz für Europa gearbeitet.
Zu dieser Diskussion haben die Bischöfe der EU
vor wenigen Tagen einen wichtigen Beitrag geleistet:
• Sie fordern für diese Constitution
die grundlegenden Menschenrechte ein,
• pochen auf die unverzichtbare Bedeutung des Gemeinwohls
und der sozialen Gerechtigkeit für das Zusammenleben
der Menschen in Europa,
• erinnern an die großen religiösen und spirituellen Traditionen
und deren Werteordnung,
ohne die Europa keine dauerhafte Zukunft haben kann.
• Sie setzen auf den Dialog
zwischen den Europäischen Staaten und Institutionen einerseits
und den Kirchen andererseits.
• Sie gehen davon aus,
daß in einer Europäischen Verfassung
ganz selbstverständlich auch Gott seinen Platz haben muß.

„Eine Seele für Europa!"
„Nicht allein vom Brot lebt der Mensch,
sondern von jedem Wort,
das aus dem Mund des Herrn kommt!" (Lesung)
Dieses Lebensprinzip in die Europäische Entwicklung einzubringen,
darum geht es,
und das ist nicht zuletzt unsere Aufgabe als Christen.
Diese Aufgabe können wir nicht delegieren,
können wir nicht anderen überlassen.
Von Christus ist uns diese Aufgabe als Sendung übertragen worden.
Gerade noch an Christi Himmelfahrt
haben wir uns dieser Sendung vergewissert:
„Ihr werdet meine Zeugen sein bis an die Grenzen der Erde."
Und: „Geht zu allen Völkern 
und macht sie zu meinen Jüngern...
Lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe."

In einer pluralen Gesellschaft gilt es,
diese Botschaft in der Öffentlichkeit offensiv zu vertreten
und auch politisch durchzusetzen.
Selbstverständlich setzt das voraus,
daß wir selbst von dieser Botschaft des Glaubens
wirklich überzeugt sind und sie leben.
Dann aber sollten wir uns auch nicht zu schade sein,
die in einer Demokratie üblichen Mittel 
der Gewinnung von Menschen uns zu eigen zu machen.

Eines davon ist die friedliche Demonstration.
Und unsere Fronleichnamsprozession ist eine Demonstration des Glaubens -
im Vergleich zu den vielen Demonstrationen,
die Göttingen erlebt,
sogar die bei weitem größte und beeindruckendste.

Die Fronleichnamsprozession demonstriert,
wer unserer Überzeugung nach allein dieser Welt
und zumal dem zusammenwachsenden Europa 
zum Segen werden kann:
Jesus Christus, den wir als unseren Herrn 
durch die Straßen dieser Stadt tragen.
Wir sollten uns ernsthaft überlegen,
ob wir Ihn nicht demnächst durch die Weender Straße tragen sollten,
um dann vor dem alten Rathaus mit Gottesdienst und Segen abzuschließen.

Wichtig wäre allerdings auch,
daß wir nicht einstimmen in das Gejammere
so vieler Christen bis hinauf in die Kirchenleitung,
die wie gebannt auf die Statistiken der Kirchemitglieder starren -
genau wie Aktionäre sich aus der Fassung bringen lassen
durch die steil abfallenden Kurven der Aktienkurse während einer Baisse.

Wir bieten nicht aufgeblasene Papiere an,
wir haben vielmehr eine Botschaft,
die Menschen zu Menschen werden läßt
und Europa zu einem Erdteil,
in dem sich zu leben lohnt!
Dafür laßt uns Menschen gewinnen!
Auch indem wir ihnen einen neuen Zugang 
zur Kirche Jesu Christi erschließen.
Nach der Sommerpause werden wir
unter dem Titel „Schritte zum Christsein"
mit einer Gruppe von Menschen neu beginnen,
die auf der Suche nach Orientierung sind
und sich vielleicht auch taufen lassen möchten.
Wir brauchen solche Menschen 
- und zwar möglichst viele -
damit unsere Stadt, damit unser Land,
damit Europa wieder eine Seele bekommt.

Amen.