Predigt zum Dreifaltigkeitssonntag 
am 26. Mai 2002
Lesung: Ex. 34, 4b.5-6.8-9; Evangelium: Joh. 3, 16-18
Am Beginn des Gottesdienstes stand die Betrachtung eines Leporellos, das - je nachdem aus welcher Perspektive man es betrachtet - blau ist oder rot oder grün.
Auf dieses Leporello nimmt die Predigt an einer Stelle Bezug.
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Bitte gestatten Sie, 
daß ich diese Predigt am Dreifaltigkeitssonntag 
mit einer Geschichte beginne,
die ich heute morgen den Kindern erzählt habe,
und die doch für Erwachsene bestimmt ist:

Es war einmal in einem fernen Land ein König.
Eines Tages ließ er drei blinde Bettler zu sich rufen.
Derjenige von ihnen, der ihm am besten
einen Elefanten beschreiben würde,
sollte einen großen Edelstein erhalten.

Der erste Bettler tastete das Bein des Elefanten ab:
„Er ist wie ein Baumstamm!" Rief er.
Der zweite Blinde, der den Schwanz faßte, erklärte:
„Ein Elefant ist wie ein Seil!"
Der Dritte ergriff das Ohr:
„Nein, er fühlt sich an wie ein Palmenblatt!"

Die drei blinden Bettler begannen, sich darüber zu streiten,
wie denn nun wirklich der Elefant aussieht.
Da alle drei auf ihre Weise Recht hatten,
schenkte der König jedem einen Edelstein.

Wir feiern heute das innerste Geheimnis Gottes.
Unzählige Theologen haben sich darüber
tiefschürfende Gedanken gemacht
und doch immer nur Teilaspekte in den Blick bekommen -
und auch die ganz und gar unzulänglich.
Auf diesem Hintergrund enthält die Geschichte von den drei Bettlern
eine deutliche, wenn auch milde Kritik 
an diesen Theologen:
Sie alle sind „blinde Bettler".

Aber übersehen wir bitte nicht:
Diese Kritik gilt selbstverständlich auch uns!
Denn wer von uns macht sich nicht auch 
immer wieder Bilder von Gott?
Wer von uns hätte nicht auch den Wunsch,
Gott begrifflich zu fassen,
Ihn also „in den Griff" zu bekommen,
eine zutreffende Vorstellung von Ihm zu haben
oder - wie Mose - „Seine Herrlichkeit zu sehen"? (Ex. 33,18)

Die Bibel jedoch stellt Gott immer wieder im Bild der „Wolke" dar -
und die ist eben nicht greifbar.
Die ist und bleibt - aller modernen Wissenschaft zum Trotz -
ein nicht selten sogar beängstigendes Geheimnis.
Wer auf einer Bergwanderung schon einmal
in eine Wolke hineingeraten ist
und die Orientierung verloren hat, 
weiß das.

Dem Mose antwortet Gott:
„Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben!" (Ex. 33,20)
Diese Antwort Gottes illustriert ein weiser jüdischer Rabbi:
Einen seiner Schüler quälte seit langem die Frage,
warum man Gott nicht sehen kann.
Nachdem er diese Frage seinem Lehrer vorgetragen hatte,
antwortete jener: „Schau in die Sonne!"
Der Schüler versuchte es und gab letztlich auf.
Schließlich sagte der Rabbi:
„Wenn du nicht einmal in die Sonne schauen kannst,
wie willst du dann Gott sehen können!"

Mose verneigt sich schließlich ehrfürchtig 
vor der Größe und Herrlichkeit,
aber auch vor der Güte und Barmherzigkeit
des geheimnisvollen Gottes - ohne Ihn gesehen zu haben.
Er verneigt sich bis zur Erde
und wirft sich zu Boden.
Vielleicht sollten auch wir uns in dieses Geheimnis Gottes
einfach nur fallen lassen.
Denn wo sonst können wir jene Geborgenheit finden,
nach der wir uns im Letzten doch alle sehnen?

Vom Leporello und von der Geschichte der drei blinden Bettler 
jedoch könnten wir lernen:
Gott ist immer größer als all das,
was wir in den Blick bekommen,
und was wir glauben verstanden zu haben.

Und noch etwas könnten wir lernen: 
Nicht nur Gottes Wirklichkeit ist „dreifaltig" = vielseitig.
Schon unsere alltägliche Wirklichkeit
hat vielfach mehrere Seiten
und erscheint manchmal ganz anders -
je nach dem Blickwinkel, aus dem heraus wir sie betrachten.

• Ein kleines Beispiel aus dem Kindergottesdienst:
Eine Stunde Fernsehen -
aus dem Blickwinkel der Kinder ist das wenig;
aus dem Blickwinkel der Eltern möglicherweise schon sehr viel.

• Wenn ich von einem Familienkonflikt erfahre,
habe ich manchmal den Eindruck,
es handele sich um ganz verschiedene Familien -
je nachdem welche „Partei" gerade berichtet.

• In Göttingen gibt es einen kleinen Gesprächskreis
der abrahamitischen Religionen, an dem ich beteiligt bin.
Augenblicklich ist das Gespräch ganz schwierig:
Der Konflikt im Vorderen Orient erscheint in einem ganz anderen Licht -
je nachdem ob ein deutscher Jude oder ein palästinensischer Muslim
darüber spricht.

Sie selbst kennen vermutlich ähnliche Beispiele.
Es wäre ein Gewinn für den Frieden in der Welt,
wenn wir von klein auf dafür trainierten,
die Wirklichkeit auch mit den Augen des jeweils anderen zu betrachten,
und das nach Möglichkeit mit liebevollen Augen -
so wie Gott unsere Welt auch mit menschlichen Augen betrachtet
in unserem Bruder Jesus Christus
durch den Heiligen Geist, der die Liebe schlechthin ist.

Amen.