Predigt zum 9. Sonntag im Jahreskreis (A) 
am 2. Juni 2002
Lesung: Dtn. 11, 18.26-28.32; Evagnelium: Mt. 7, 21-27. 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Jahrhundertelang haben katholische 
und evangelische Theologen sich gegenseitig
die Gnade Gottes und die Werke des Menschen,
den Glauben und das Gesetz
um die Ohren geschlagen.
Inzwischen haben wir gelernt, 
daß diese Schwarz-Weiß-Malerei 
ein Irrweg, eine Sackgasse war.

Wir haben gelernt, daß wir selbstverständlich
allein durch Gottes Gnade gerechtfertigt sind.
Wir haben aber auch gelernt, 
daß wir im Glauben Gottes Gnade annehmen müssen,
und daß dieser Glaube
- seinerseits ein Geschenk Gottes -
„Gelebter Glaube" ist.

Genau in diesem Sinne muß man wohl auch schon
die Botschaft der Lesung aus dem Ersten Testament,
aus dem Buch Deuteronomium verstehen.
Was wir häufig in einem positivistischen Sinne
als „Gesetz" mißverstehen,
meint eigentlich:
sich im Glauben auf Gottes Willen einzulassen
- „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden" -
und diesen Gotteswillen in der Verbundenheit mit Gott zu leben.

Anders ausgedrückt:
Der Mensch ist durch Gottes Liebe und Gnade 
geschaffen als Sein Abbild und Gleichnis.
Als solches darf er „sich selbst verwirklichen",
indem er sich orientiert am Willen Gottes,
der sich - zeitgebunden - schon offenbart 
in der „Weisung" etwa des Buches Deuteronomium,
endgültig und unüberholbar jedoch 
in Jesus Christus und seinem Evangelium. 

Diese innige Verbundenheit mit Gott
bringen gläubige Juden bis auf den heutigen Tag 
durch ein sichtbares Symbol zum Ausdruck,
indem sie den ersten Vers der heutigen Lesung wörtlich nehmen:
„Diese meine Worte sollt ihr auf euer Herz
und auf eure Seele schreiben",
Sie schreiben einige Schriftverse auf Pergamentstreifen,
verwahren sie in Kapseln
und binden zum Gebet je eine dieser Kapseln
an die Stirn und um den linken Oberarm -
also in die Nähe des Herzens.
Das Herz gilt im altorientalischen Veständnis
als sitz des Denkvermögens, der Planungen und Entscheidungen;
die Seele meint im hebräischen Sprachgebrauch die Lebenskraft.
Es geht also auch hier nicht um positivistische Gesetzeserfüllung,
sondern um einen ganzheitlich gelebten Glauben,
also um jene tiefste Verbundenheit mit Gott,
die Er Seinem Volk Israel und natürlich auch uns schenkt.

Wie so häufig in der biblischen Überlieferung
wird die Verbundenheit mit Gott nicht individualistisch verstanden.
Gewiß muß das von Jahwe verheißene und angebotene Heil
von jedem Einzelnen ganz persönlich angenommen werden.
Aber dieses Heil ist zuallererst dem ganzen Gottesvolk zugesagt.
Mit dem Volk schließt Gott Seinen Bund!
Der Gott Seines Volkes will Er sein
und wir dürfen Sein Volk sein!

„Seht, heute werde ich euch den Segen und den Fluch vorlegen..."
Mit dieser Formulierung und den folgenden Versen
überträgt das Buch Deuteronomium den Loyalitätseid,
den im 7. Jahrh.v.Chr. die unterworfenen Völker
dem assyrischen Großkönig leisten mußten,
auf Jahwe. Das heißt:
Die ungeteilte Loyalität Israels soll ausschließlich Jahwe gelten,
nicht aber irgendeinem anderen Herrscher oder anderen Göttern.

Ich denke, auch dieser Aspekt der Lesung
ist heute hochaktuell.
Wie niemals in der Geschichte zuvor
beansprucht heute die einzige Weltmacht unserer Zeit,
alleine und mit imperialistischen Mitteln
Maßstäbe zu setzen für das Zusammenleben 
der Völker dieser Welt.
Nach dem fürchterlichen Verbrechen des 11. September,
für das es keine Erklärung 
und schon gar keine Rechtfertigung geben kann,
haben etliche Regierungen 
eine „uneingeschränkte Loyalitätserklärung"
nicht für das amerikanische Volk,
sondern für eine imperialistische Macht
und deren Götzen abgegeben.

• Diese Macht setzt gerade nach dem 11. September
ihre Interessen rücksichtslos durch -
zu Lasten vor allem der Kleinen und Armen
in der Zivilbevölkerung z.B. Afghanistans.
• Diese Macht ist auch an erster Stelle verantwortlich
für ein Weltwirtschaftssystem,
das die Schere zwischen arm und reich
ins Unermeßliche auseinandergehen läßt.
• Diese Macht widersetzt sich allen Versuchen,
eine gerechtere und zukunftsträchtigere Weltordnung zu schaffen:
Etwa dem Kyoto-Protokoll zur Kontrolle der Vergiftung der Natur
oder dem Vertrag zur Kontrolle biologischer Waffen
oder der Vereinbarung zur Schaffung
eines internationalen Strafgerichtshofes.

Im Vergleich zur modernen Art von Imperialismus
ist der assyrische Großkönig ist ein Waisenknabe.
Und wie die Bibel in der Konfrontation mit ihm
das alleinige Herrschaftsrecht Jahwes herausstreicht,
so müßte auch für uns als Christen heute klar sein,
daß es eine „uneingeschränkte Loyalität" 
nur Gott gegenüber geben kann und geben darf,
und daß alles andere Götzendienst ist.

Eine Gesellschaft aber, die ihr Zusammenleben auf Götzendienst gründet,
hat „auf Sand gebaut"
und kann keinen Bestand haben!
Wie auch das Leben eines jeden Einzelnen auf Sand gebaut ist,
wenn er nicht bereit ist, 
sich selbst als Ebenbild Gottes zu verwirklichen
und sich an Gottes Weisung zu orientieren.
Die Verbundenheit mit Gott,
mit Seinem Willen und Seiner Werteordnung
ist jener „Fels", auf dem das Lebenshaus des Einzelnen,
wie der Gesellschaft auch Stürme überstehen kann.
Davon spricht das Evangelium dieses Sonntags,
das wir nun hören werden.

Amen.