Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis (A) 
am 10. November 2002
Evangelium des Sonntags: Mt. 25, 1-13; Lesung: Weish. 6, 12-16
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Bereits in vierzehn Tagen
geht mit dem Christkönigssonntag das Kirchenjahr zu Ende.
Heute schon klingt im Evanglium eine Botschaft an,
die uns durch diese letzten Wochen des Jahres
und dann auch in den Advent hinein begleiten wird:
„Der Herr wird wiederkommen zum Gericht!
Wachet auf! Macht euch bereit!"

Auf diesen Ruf zur Wachsamkeit zu hören -
das ist im Sinne der Bibel „Weisheit".
Die Leseordnung der Kirche stellt diesen Zusammenhang
auch ausdrücklich her, 
indem sie mit dem Evangelium von den klugen und törichten Jungfrauen
einen Text aus dem Buch der Weisheit verbindet.

Leider hat die Pisa-Studie uns nur wachgerüttelt
durch die Offenbarung erschreckender Wissenslücken.
Hätte sie nach „Weisheit" in unserem Lande gefragt,
sie hätte uns ins Bodenlose abstürzen lassen!

Daher erscheint es sinnvoll,
heute einmal im Gottesdienst über diese „Weisheit" nachzudenken,
die frühere Generationen einmal zu den Kardinaltugenden zählte,
die uns heute jedoch so fern liegt,
daß viele nicht einmal mehr etwas mit dieser Vokabel anfangen können.

Fangen wir also sozusagen beim Punkt Null an
und fragen uns, was das eigentlich bedeutet: „Weisheit"!
„Wissen" - das ist uns geläufig.
Unsere Wissenschaften haben davon eine unermeßliche
und nicht mehr überschaubare Fülle angehäuft.
Aber jeder einzelne muß immer mehr davon
auf immer kleineren Spezialgebieten
bis ins Detail beherrschen,
wenn er es in dieser Welt zu etwas bringen will.

Was aber bedeutet „Weisheit"?
Zunächst einmal geht es darum,
etwas zu kennen - und das nicht oberflächlich,
sondern durch und durch;
also durch die Dinge hindurch zu schauen
und ihr eigentliches Wesen zu entdecken.
Weisheit bedeutet auch,
an etwas Geschmack haben:
Das lateinische Wort „sapientia"
hat etwas zu tun mit „Sapor" = Geschmack.
Ein hervorragender Koch sagte mir einmal,
jeder könne feststellen, daß einem Gericht der rechte Geschmack fehle;
die Kunst jedoch bestünde darin, herauszufinden,
was denn nun diesem Gericht konkret fehle -
welches Gewürz zum Beispiel oder welch andere Zutat.

Genau in diesem Sinne ist die „Weisheit" eine Kunst:
• Die Kunst schon eines Handwerks.
• Viel mehr noch die Kunst des Hörens,
• die Kunst der Selbstbeherrschung,
• die Kunst gelingender Beziehungen,
• die Kunst, das eigene Leben zu meistern,
• die Kunst, Gottes gute Ordnung zu erkennen und zu realisieren,
• die Kunst, die Grenzen der Berechenbarkeit menschlichen Tuns zu erkennen
• und also die Kunst der Offenheit für das Wirken Gottes,
• die Kunst, anderen einen rechten Rat zu geben,
• die Kunst gerechter Regierung.

Um diese Kunst gerechter Regierung
geht es übrigens konkret in der Lesung des heutigen Tages.
Die Einleitung der Perikope
wurde durch die Leseordnung leider weggelassen:
„Hört also, ihr Könige, und seid verständig,
lernt, ihr Gebieter der ganzen Welt!
Der Herr hat euch die Gewalt gegeben...
Ihr seid Diener seines Reiches.
Aber ihr habt kein gerechtes Urteil gefällt,
das Gesetz nicht bewahrt
und die Weisung Gottes nicht befolgt...
An euch also, ihr Herrscher, richten sich meine Worte,
damit ihr Weisheit lernt und nicht sündigt."

Tränen können einem in die Augen treten,
wenn man die Politik heute
auf dem Hintergrund solcher Weisheitstexte betrachtet.
Und dabei wäre doch - glauben wir der heutigen Lesung -
alles so einfach:
Wer die Weisheit sucht, findet sie.
Er findet sie sogar vor seiner Tür sitzen.
Mehr noch: Sie geht selbst umher,
um die zu suchen, die ihrer würdig sind.

Allerdings:
Man müßte schon über sie nachsinnen
und ihretwegen sogar wachen.
Vielleicht würde man dann entdecken,
daß der Anfang aller Weisheit die Gottesfurcht ist
und das „Schmecken" der Dinge -
wie sie untereinander und zum Ganzen 
der weisheitlichen Schöpfungsordnung Gottes
in Beziehung stehen.
Vielleicht würde man dann auch entdecken,
daß allem eine letzte Bestimmung innewohnt,
ein Sinn, den man nicht ungestraft vernachlässigen kann.

Nicht nur in der Politik, sondern in all unseren Lebensbezügen
geht es darum,
die ganze Wirklichkeit des Menschen und der Schöpfung ernstzunehmen
und die Erfahrungen des Lebens zu reflektieren
- auch deren Widersprüche und Dunkelheiten -
im Horizont der Gottesfurcht und der Ehrfurcht überhaupt.

Die Weisheit ist so etwas wie eine Synthese
menschlichen und göttlichen Wissens um die Schöpfungsordnung.
Die Weishet hat ihren Sitz nicht wie das pure Wissen im Verstand,
sondern im Herzen des Menschen -
wir würden heute sagen: In der Mitte der Person.
Und wer aus der Weisheit lebt, die Gott schenkt,
dessen Leben gelingt.

Nichts - so sagt die Bibel - kommt der Weisheit gleich.
Alles Gold erscheint neben ihr wie ein wenig Sand.
Ein unerschöpflicher Schatz ist sie für die Menschen.
Alle, die ihn erwerben, erlangen die Freundschaft Gottes.

Die Weisheit ist ein Hauch der Kraft Gottes.
Sie ist göttlichen Ursprungs.
Noch hatte der Schöpfer den Kosmos nicht erschaffen,
da war bereits die Weisheit Sein geliebtes Kind
und „spielte vor Ihm allezeit" (Spr. 8, 30).

Johannes greift im Prolog seines Evangeliums
diese biblische Schöpfungstheologie auf,
und bezieht sie auf Christus:
„Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott.
Alles ist durch das Wort geworden.
Und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.
In Ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen."

Aus der weiblichen „Sophia", der „Weisheit"
ist hier der männliche „Logos", das „Wort" geworden.
Aber noch lange war es Christen eine Selbstverständlichkeit,
daß in Jesus Christus Gottes Weisheit aufstrahlt,
und daß wir um so mehr an dieser Weisheit Anteil erhalten,
je mehr wir uns auf Jesus Christus einlassen
und in Seiner Nachfolge leben.

Die alte „Hagia Sophia" in Konstantinopel,
die Kirche der „Heiligen Weisheit" also,
ist/war eine Christuskirche!
Und indem wir Jesus Christus heute in der Liturgie feiern,
feiern wir die Weisheit,
die Mutter und Lehrerin aller Künste, Wissenschaften und Tugenden;
Tochter Gottes, Retterin der Welt,
Weggefährtin im Leben,
Helferin und Trösterin in der Not.
Sie lädt als Gastgeberin zum Mahl ein.
Sie baut ihr Haus inmitten der Menschen
und kommt denen, die sie suchen,
wie eine Mutter und Ehefrau entgegen.

Die „Weisheit" in der Liturgie zu feiern,
das ist bereits ein wesentlicher Vollzug der Weisheit selbst.
Weihnachten wird ein Gipfelpunkt dieser weisheitlichen Liturgie sein,
wenn es heißt: „Und das Wort ist Fleich geworden".
Darauf sollte es uns in den kommenden Wochen ankommen:
daß die göttliche Weisheit Fleisch annimmt
im Alltag unseres Lebens
und im Alltag dieser Welt, in der wir leben.

Amen.