Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis (A)
am 3. November 2002
Evangelium:  Mt. 23, 1 - 12
Autor: P.Heribert Graab S.J.


Dies ist ein Bildausschnitt des Misereor-Hungertuches
von 1982 aus Haiti.
Der Künstler ist Jacques Chéry.

Obwohl die Szene einen ganz anderen biblischen Hintergrund hat,
scheint sie mir eine aktuelle Illustration
des heutigen Evangeliums zu sein.

Das Hungertuch zeigt Menschen,
die in die Gefangenschaft nach Babel geführt wurden.
Einige sitzen am Fluß und weinen.
Die Mehrheit jedoch arbeitet an diesem turmartigen Berg,
der aus dem Wasser ragt.
Sie versuchen den Gipfel zu erreichen
und benutzen dabei rücksichtslos
die Mitmenschen als Trittbretter.

Jacques Chéry will mit dieser
von Menschengewimmel geprägten Szene zeigen,
wie sehr wir heute dem „babylonischen Größenwahn" huldigen,
wo einer gegen den anderen nach oben kommen will.

In seiner Rede gegen führende Schriftgelehrte und Pharisäer
kritisiert Jesus gerade diese menschliche Schwäche,
die offenkundig zeit- und raumübergreifend ist:
mehr gelten zu wollen als andere,
mit irgendetwas glänzen zu wollen
- mit Titeln, Uniformen, Autos oder Karrieren -
und vor allem: Macht ausüben zu wollen über andere.

Immer wieder geißelt Jesus diese Macht- und Geltungssucht -
selbst bei seinen Jüngern:
Unter denen waren zwei,
die auf die Plätze links und rechts neben ihm spekulierten,
wenn er zum gericht wiederkomme.
Die Reaktion Jesu:   
„Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken
und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen.
Bei euch soll es nicht so sein,
sondern wer bei euch groß sein will,
der soll euer Diener sein,
und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein."

Und noch beim letzten Abendmahl erteilt er ihnen diese Lehre,
indem er selbst den Sklavendienst der Fußwaschung übernimmt.
Und er deutet zugleich das, was er tut, mit den Worten:
„Wenn ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe,
dann müßt auch ihr einander die Füße waschen.
Der Sklave ist nicht größer als sein Herr."   

Denken Sie auch an Jesu Erzählung vom Hochzeitsmahl,
bei dem jeder den ersten Platz einnehmen will.
Sein Facit lautet:
„Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt,
und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden."

Und genau diese Formulierung haben wir soeben
im Evangelium gehört:
„Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt,
und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden."

Ihr sollt euch zum Beispiel nicht „Rabbi" nennen lassen,
auch nicht „Lehrer" oder „Vater".
Niemand soll den Versuch machen über den anderen zu stehen.
Untereinander seid ihr nämlich nichts als „Schwestern und Brüder";
und meine Jünger könnt ihr nur sein,
wenn ihr diese Geschwisterlichkeit Tag für Tag
und in allen denkbaren Situationen lebt.

Sie wissen so gut wie ich,
daß die Jüngerinnen und Jünger Jesu
sich zu allen Zeiten mit dieser klaren Weisung Jesu schwer getan haben.
Das fängt mit den vielen Titeln
und mit den auszeichnenden Gewändern an
und hört bei der hierarchischen Struktur der Kirche auf.

Mich selbst nennen viele Menschen „Pater".
Aber eigentlich soll das doch nicht sein,
haben wir eben gehört.
Es ist also mehr als eine Marotte,
wenn ich eigentlich viel lieber meinen Vornamen höre.
Und der Papst wird ganz offiziell „Heiliger Vater" genannt.
Mir persönlich kommt diese Bezeichnung
nur äußerst widerstrebend über die Lippen - wenn überhaupt.

Aber natürlich sind das eher Äußerlichkeiten.
Da wiegt schon schwerer,
daß es auch in der Kirche
Pfründen- und Titelkauf gegeben hat;
und daß bis auf den heutigen Tag
auch in der Kirche Menschen an ihren Karrieren stricken.

Die Kirche Jesu Christi kann letztendlich nur glaubwürdig sein,
wenn sie in Seinem Sinne eine geschwisterliche Kirche ist -
und davon ist sie leider auch nach zweitausend Jahren noch weit entfernt.

Ich möchte nicht mißverstanden werden:
Selbstverständlich braucht jedes soziale Gebilde
Leitungsfunktionen und Menschen, die das Ganze zusammenhalten.
Der Dienst an der Einheit zumal ist unverzichtbar.
Aber es muß nachvollziehbar und erfahrbar sein,
daß es sich dabei um einen „Dienst" handelt
und nicht um Herrschaft von Menschen über Menschen.

„Wer der Größte unter euch sein will,
der sei der Diener aller!"
Dieses Wort Jesu muß mit Leben erfüllt werden -
und das nicht nur „da oben",
sondern zuerst einmal hier bei und.
Als Kirche vor Ort haben wir nicht nur den Auftrag, sondern die Chance,
dieses einander Ernstnehmen und Wertschätzen
immer wieder einzuüben,
einen Dialog zu praktizieren,
der nicht Erfahrungen und Nöte der Mitmenschen abwertet,
unterschiedliche Lebensgeschichten wahrzunehmen,
daraus gewachsene Lebensstile erst einmal zu akzeptieren -
selbst wenn wir sie nicht gutheißen.
(Denken sie z.B. an die Lebensgeschichten
und auch an die Lebensstile unserer Gäste beim Mittagstisch!).
Vor allem aber kann es unter Christen nicht darum gehen,
anderen schwere Lasten aufzubürden,
die sie nicht tragen können,
und schon gar nicht Lasten,
die wir nicht auch selbst zu tragen bereit sind.

Menschen unserer Tage haben in aller Regel ein feines Gespür
für jede Form von Doppelmoral,
und ihr Widerwille richtet sich gegen jedes „Von-oben-herab",
gegen jede nicht von innen her beglaubigte Autorität
und auch gegen jede Form von Religion,
die nicht von der eigenen Person her gedeckt und mitvollzogen wird.
Insofern wir alle mehr oder weniger an diesem Punkte Defizite haben,
sind wir auch alle mitverantwortlich,
wenn sich Menschen von der Kirche abwenden.

Ich möchte abschließend noch einmal auf einen Kernpunkt
der Predigt vom letzten Sonntag zurückkommen:
In einer geschwisterlichen Kirche geht es darum,
einen Mond lang in den Mokassins des jeweils anderen zu laufen.
Vorher ist es kaum möglich,
in ihm die Schwester oder den Bruder zu erkennen
und ihm dementsprechend zu begegnen.

Amen.