Predigt zum 5. Sonntag in der Osterzeit (C) am 9. Mai 2004
Zum Evangelium: Joh. 13, 34 - 35
Autor: P.Heribert Graab S.J.
In vielen Gesprächen, die ich mit Menschen führe,
stellt sich irgendwann die Frage:
Ist es möglich, Gott zu erfahren;
und wenn ja, wie?
Eine ganz wichtige Antwort auf diese Frage
- vielleicht die Antwort schlechthin -
gibt Jesus im Evangelium, das wir soeben gehört haben.

Sie alle kennen den eindringlichen Gesang aus Taizé:
„Ubi caritas et amor, Deus ibi est!"
Wo wir die Erfahrung von Liebe machen
- in all ihren Dimensionen -
und wo wir uns selbst als Liebende erfahren,
erfahren wir immer wieder auf‘s Neue
IHN, der die Liebe schlechthin ist,
erfahren wir Gott.

Während des irdischen lebens Jesu
haben Seine Jüngerinnen und Jünger
in der Begegnung mit Ihm Gott erfahren -
auch wenn sie sich dessen erst nach und nach,
und letztlich erst nach Ostern bewußt wurden.

Wie war diese Gotteserfahrung in und durch diesen Jesus möglich?
obwohl Er ihnen doch als einer der ihren vertraut war:
als Mensch - ganz und gar Mensch.
Ich kann mir nicht vorstellen,
daß wirklich die „Wunder" Jesu den Ausschlag dafür gaben:
„Wunder" gibt es viele - und „Wundertäter" auch.

Noch viel weniger kann ich mir vorstellen,
daß sie so ohne weiteres die Selbstoffenbarung Jesu akzeptierten,
wenn Er die göttlichen Verheißungen 
der biblischen Tradition auf sich bezog.

Ich glaube vielmehr:
Viele von denen, die mit Jesus zusammenkamen,
und zumal diejenigen, die Ihn auf all Seinen Wegen begleiteten,
gewannen so nach und nach eine Ahnung
von der Gegenwart Gottes in Ihm
durch die Art und Weise, wie Er ihnen begegnete,
und wie Er überhaupt auf Menschen zuging:
Sie machten die Erfahrung,
dieser Jesus von Nazareth strahlt eine unüberbietbare Liebe aus.
Jeder Blick, mit dem Er uns anschaut,
drückt aus, wie sehr Er uns liebt.
Jedes Wort aus Seinem Mund ist Sprache der Liebe.
Seine Liebe, Sein unbedingtes Ja zu uns
und zu jedem Menschen, dem Er begegnet,
verändert uns und all die anderen:
Seine faszinierende Liebe veranlaßte uns,
alles stehen und liegen zu lassen, um Ihm zu folgen.
Seine Liebe war es,
die Menschen an Leib und Seele heilte -
den Gelähmten so gut wie den betrügerischen Zöllner.
Seine Liebe erweckte den Lazarus
und die Tochter des Jairus zu neuem Leben -
und nicht nur sie, sondern viele, viele andere,
die mitten in einem Scheinleben wie Tote waren.

Nicht von ungefähr geht in der deutschen Sprache
„Leben" und „Liebe" auf den gleichen Wortstamm zurück.
Genau diesen inneren Zusammenhang
haben die Jüngerinnen und Jünger Jesu
wohl nach und nach erahnt
und in der Erfahrung des Ostergeschehens
letztendlich auch begriffen:
Gott ist der Gott der Liebe und des Lebens.
Und dieser Gott der Liebe und des Lebens
ist uns in Jesus Christus erschienen;
und Ostern hat Er die Macht
von Haß, Gewalt und Tod in dieser Welt besiegt.

Wie aber ist eine solche Gotteserfahrung
uns Heutigen möglich?
Im Ostergeheimnis -
das umfaßt auch das Himmelfahrtsereignis
und die Geistsendung des Pfingstfestes -
Im Ostergeheimnis feiern wir,
daß dieser Mensch Jesus von Nazareth
ganz eins wird mit dem „Vater" -
ganz und gar hineingenommen
in die Liebe und das Leben Gottes.
Seit Pfingsten haben auch wir
an dieser göttlichen Liebe, 
an diesem göttlichen Leben Anteil.
In Taufe und Firmung 
ist uns diese Gemeinschaft mit Gott geschenkt. 

Wir können sie um so intensiver erfahren,
je mehr wir uns für das Geschenk der Liebe öffnen,
je mehr uns bewußt wird, wie sehr wir selbst geliebt sind,
und je mehr wir Gottes Liebe weiterschenken.
„Ubi caritas et amor, Deus ibi est!"

• Schon ein kleines Kind 
- geborgen in der Liebe von Mutter und Vater -
ist gerade darin aufgehoben in Gottes Liebe.
Ob ihm das jemals zu Bewußtsein kommt,
das hat viel damit zu tun, ob es seinen Eltern gelingt, 
ihm das Geheimnis der Liebe zu entschlüsseln.
Jedenfalls sind einem Menschen
Glauben und Gotteserfahrung nur sehr schwer möglich,
wenn ihm die Urerfahrung von Liebe
und Geborgenheit bei seinen Eltern abgeht.

• Ich erfahre auch Gottes Nähe
in der Begegnung mit jungen Menschen, die sich wirklich lieben;
und erst recht in Gesprächen mit Paaren,
die bei ihrer Hochzeit ganz und gar zueinander Ja sagen möchten;
mehr allerdings noch in der Begegnung mit Menschen,
die miteinander alt geworden sind
und dieses Ja ein Leben lang
durch Höhen und Tiefen hindurch gelebt haben.

• Noch auf einen weiteren „Ort" der Gotteserfahrung
möchte ich aufmerksam machen:
Wenn wir mit den Augen Jesu sehen
und mit all Seinen Sinnen die Wirklichkeit wahrnehmen würden -
wir würden nebenan beim Mittagstisch St.Michael
Gottes Anwesenheit erfahren -
intensiver vielleicht als hier in der Kirche St.Michael.

Dagegen können wir umgekehrt
nirgendwo so erschütternd Gottes Abwesenheit erfahren,
wie in der Konfrontation mit jenem abgrundtiefen Haß,
der im aktuellen Terrorismus zu Tage tritt.
Allerdings - wären wir sensibel genug -
würden wir Gottes Abwesenheit ebenso schmerzlich erfahren
in der Menschenverachtung von Kolonialismus
und von wirtschaftlichem und politischem Machtstreben,
die eine unübersehbare Ursache von Terrorismus ist.
Und ebenso würden wir die Abwesenheit Gottes erfahren
im menschenunwürdigen Umgang mit Gefangenen
und selbst in manchen sicherheitspolitischen Maßnahmen
gegen den Terrorismus:
Haß erzeugt Haß
und Gewalt erzeugt Gewalt.

Angesichts solch mörderischen Hasses
schreit selbst Jesus am Kreuz seine Verzeweiflung hinaus:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"
Er wählt dazu die vertrauten Worte des Psalms 22.
Mit diesem Psalm ringt Er allerdings
auch in der Erfahrung der Gottesferne
um das Vertrauen darauf,
daß selbst die finsterste Dunkelheit das Licht der Liebe Gottes
nicht auszulöschen vermag.

Dieses alle Finsternis durchdringende Licht der Liebe Gottes
strahlt endgültig und für uns alle am Ostermorgen auf.
Daher dürfen wir voll österlicher Freude singen:
„Ubi caritas et amor, Deus ibi est!"