Predigt zum Vierten Ostersonntag (A)
am 7. Mai 2017
Evangelium: Joh. 10, 1-15 (!)
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Hirten und ihre Schafherden
finden sich kaum noch in unserer Alltagswelt.
Daher begegnet uns das Bild vom „Guten Hirten“ 
fast nur noch in der Kirche.
Und doch möchte ich auf dieses Bild nicht verzichten,
weil es sehr viel aussagt über zwischenmenschliche Beziehungen
und über vertrauensvolles und verantwortungsbewußtes Miteinander;
und weil es sehr hilfreich ist für eine Klärung der Frage
„Wer ist Jesus Christus für mich?“
„Und wer ist Gott für mich und für uns Menschen überhaupt?“

Eine erste Antwort gibt uns das Evangelium selbst,
indem es zwei Bilder Jesu ganz eng miteinander verknüpft:
Jesus sagt von sich selbst: „Ich bin der gute Hirt.“
Und Er sagt auch: „Ich bin die Tür.“
Dieses zweite Bild spricht uns heute vielleicht unmittelbarer an:
Jesus ist die Tür, durch die wir auf Gott zugehen können.
Oder: Jesus ist die Tür in ein menschlich erfülltes Leben.

Stille

Aber zurück zum Bild des guten Hirten:
Der gute Hirt ruft die Schafe einzeln bei ihren Namen.
Er geht ihnen voraus, und sie folgen ihm.
Jesus sagt: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, 
wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne;
und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.“
Sowohl dieses „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich“,
als auch das „Ich gebe mein Leben für sie hin“,
das ja auch bedeutet „Ich bin ganz für sie da“ -
genau das ist eine tragfähige Grundlage
für ein umfassendes Vertrauen auf Ihn.

In Anbetracht der unzähligen Stimmen,
die heute um unser Vertrauen werben,
stellt sich die Frage: Auf welche der vielen Stimmen höre ich?
Wem schenke ich mein Vertrauen? An wem orientiere ich mich?
Man könnte angesichts der unzähligen Türen,
die uns heute offenstehen,
auch fragen: Durch welche „Tür“ gehe ich ins Leben?

Stille

Noch einmal vor die gleiche Frage stellt uns das Evangelium
aus einem etwas anderen Blickwinkel.
Jesus sagt:
„Die Schafe folgen dem guten Hirten, denn sie kennen seine Stimme.“
Und er sagt auch:
„Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“

Kenne ich Ihn und Seine Stimme wirklich?
Weiß ich um Seine ganz persönliche Liebe zu mir?
Ist mir klar, daß er mich kennt,
weil Er mich mit liebenden Augen anschaut?
Bedeutet dieses Sich-gegenseitig-Kennen
für mich zugleich auch persönliche Beziehung und Bindung?
Kenne ich Ihn also so, daß ich Ihm ganz selbstverständlich folge?

Stille

In der Hirtenrede Jesu klingt natürlich der alte biblische Psalm 23 an,
dieser wunderschöne Psalm, den auch heute ganz viele Christen lieben:

Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. 
Er läßt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. 
Er stillt mein Verlangen;
er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. 
Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. 
Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.
Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. 
Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang,
und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.

Dieser Psalm ist vielleicht das dankbare Lied eines Menschen,
der einer tödlichen Gefahr ausgesetzt war,
der fliehen mußte, um sein Leben zu retten,
der aber immer wieder die Erfahrung der Nähe Gottes gemacht
und schließlich im Tempel zu Jerusalem Asyl gefunden hat.

Der Psalm spricht also von Gott,
als dem „Guten Hirten“, der Asyl gewährt.
Und unser Evangelium lädt uns nicht nur als einzelne,
sondern durchaus auch als Gemeinschaft von Christen ein,
dem „guten Hirten“ Gott zu folgen;
denn als Christen sollten wir doch seine Stimme kennen.
So gesehen konnte und kann es ein Grund zur Freude sein,
zu hören und zu sehen, wie viele Gemeinden
und wie viele engagierte Gruppen
sich für Menschen auf der Flucht einsetzen.
Im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen
sollten wir uns alle einer Gewissenerforschung stellen:
Wie stelle ich selbst mich zu den aktuellen Auseinandersetzungen
über den Umgang mit Fremden, die in ihrer Not zu uns kommen?

Stille

Natürlich sind wir auch als Einzelne ganz ‚privat‘ eingeladen,
uns in unserem Verhalten zu den Mitmenschen
am „Guten Hirten“ zu orientieren.
Manche ‚Amtsträger‘ in der Kirche haben zwar
die Berufung zum Hirtendienst ausschließlich auf sich bezogen
und hier und da auch die ihnen Anvertrauten
wie ‚dumme Schafe‘ behandelt.
Aber genau genommen sollten wir alle uns nicht nur als ‚Schafe‘,
erst recht nicht als ‚dumme Schafe‘ verstehen,
sondern in unseren Familien, im Beruf und in vielen anderen Bereichen selbst als „Hirten“ und „Hirtinnen“ verantwortlich handeln
in der Nachfolge des einen „Guten Hirten“ Jesus Christus.

Amen.