Predigt zum sechsten Ostersonntag (A)
am 25. Mai 2014
Evangelium: Joh. 14, 15 - 21
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Wenige Tage vor Christi Himmelfahrt
klingt das heutigen Evangelium wie eine Art ‚Testament‘ Jesu.
Im Vordergrund steht das Versprechen, die Zusage:
„Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen,
sondern ich komme wieder zu euch!“
Jetzt schon werde Ich euch den Heiligen Geist als Beistand senden,
den Geist der Wahrheit, der ganz und gar Liebe ist.
Ich werde euch den Geist senden,
der mich mit dem Vater in unauflöslicher Einheit verbindet;
diesen Geist, durch den auch ihr „in mir“ seid
und durch den ich „in euch“ bin.

Das Schlüsselwort dieser Abschiedsrede Jesu ist das Wort „Liebe“.
Wir sollten uns ein wenig in dieses Wort versenken,
und dem nachspüren, was Jesus damit sagen will.
Offenkundig geht Seine Intention weit über das hinaus,
was dieses Wort „Liebe“ bei uns selbst,
und was es vor allem in den Sprachgewohnheiten unserer Zeit
zum Klingen bringt.

Liebe – das bedeutet für Jesus wohl vor allem:
‚im Anderen sein‘, ja sogar ‚im Anderen aufgehen‘,
ohne zugleich die eigene Identität zu verlieren.
Schon am vergangenen Sonntag hieß es im Evangelium:
„So glaubt mir doch, daß ich im Vater bin,
und daß der Vater in mir ist.“
Heute spricht Jesus wieder von dieser Beziehungseinheit:
„Ich bin in meinem Vater“;
aber heute bleibt Er dabei nicht stehen, sondern ergänzt:
„Und ihr seid in mir, und ich bin in euch.“

Dieses atemberaubende Wort muß man mehrfach lesen,
um überhaupt den Mund wieder zu zu kriegen:
Wie ich im Vater bin, und wie der Vater in mir ist,
so seid ihr in mir, und so bin ich in euch!
Wir selbst also hineingenommen
in das innige Beziehungsgeflecht des Dreifaltigen Gottes!
Umfangen von jener Liebe, die in Gott selbst ist!
Geborgen in Ihm!

Nun ist aber Liebe ihrem Wesen nach niemals eine Einbahnstraße!
Vielmehr gründet in der Liebe Gottes zu uns
jene uralte ‚Weisung‘ der Thora, auf die Jesus sich des öfteren bezieht:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele
und mit all deinen Gedanken.“ (Mt. 22,37 nach Dt. 6,5)
Gott lieben - das heißt also:
•    Mit Ihm eins sein -
mit Seinem Denken und mit Seinem Handeln in dieser Welt;
•    immer tiefer Seine Pläne und Absichten verstehen;
•    immer intensiver mit Ihm konform gehen,
•    und mehr und mehr das eigene Wollen eintauchen lassen 
    in Seinen von göttlicher Liebe durchfluteten Willen.  

Das Liebesgebot der Thora ist wie das Liebesgebot Jesu
ein Doppelgebot:
„Ebenso wichtig (wie das Gebot der Gottesliebe)ist das zweite:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt. 22,39)
„Ebenso wichtig“ heißt es in der Einheitsübersetzung.
Im griechischen Urtext steht dort das Wort ‚‘‘.
Das kann man ganz verschieden übersetzen:
‚ähnlich‘, ‚vergleichbar‘, ‚ebenso wichtig‘...
Ein Vergleich mit anderen Textstellen des NT
(z.B. mit der Gerichtsrede Jesu)
legt aber eine andere Übersetzung nahe: ‚identisch‘.
Gottes- und Nächstenliebe sind letztlich ein und dasselbe,
zwei Seiten derselben Medaille.
Es gibt keine Gottesliebe ohne die Liebe zum Nächsten,
wie es auch umgekehrt keine Nächstenliebe gibt,
die nicht - häufig unbewußt und vielleicht auch ungewollt –
auch Gottesliebe ist.

„Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten,“
heißt es im heutigen Evangelium.
Dabei hat Jesus natürlich dieses ‚Doppelgebot‘ der Liebe im Blick.
Und genau dieses ‚Doppelgebot‘ hat Er nicht nur mit Worten verkündet,
Er hat es vielmehr Tag für Tag und immer und überall selbst gelebt.
Auch die Liebe zum Mitmenschen bedeutet
weitgehend ‚eins-werden‘ mit dem Anderen
und zugleich doch ganz ‚ich-selbst‘ bleiben.
Konkret heißt das z.B.: mit den Augen des Anderen schauen,
sich auf ihn einlassen, sich in seine Lage versetzen,
mit ihm leiden, sich mit ihm freuen…
In die gleiche Richtung geht die sogenannte ‚Goldene Regel‘:
„Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“

Christlich verstanden bringt diese Regel
die Nächstenliebe und die Selbstliebe auf einen Nenner -
ganz wie es der zweite Teil des ‚Doppelgebotes‘ tut:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Liebe ist also ein Dreiklang, in dem Gottesliebe,
Nächstenliebe und Selbstliebe harmonisch zusammenklingen.

Abschließend noch eine biblische Selbstverständlichkeit,
zumal eine Selbstverständlichkeit für Jesus selbst:
Diese dreidimensionale Liebe kommt nicht wirklich zum Klingen
in erhabenen Gefühlen oder in großen Worten,
nicht einmal in dem schlichten „Ich liebe dich!“,
sondern vor allem, wenn nicht gar ausschließlich
im konkreten Aufeinander-zu-gehen, im Einstehen füreinander,
im (wörtlich!) heil-samen Dasein miteinander,
im treuen Durchhalten beim Anderen und mit dem Anderen,
im unverbrüchlichen ‚Ja‘ zum Anderen
und im praktischen Tun.

Wenn Sie gelegentlich ein wenig Zeit aufbringen können,
lesen Sie unter dieser Rücksicht doch einmal eines der vier Evangelien
im Ganzen!
Kapitel für Kapitel werden Sie diese gelebte Liebe entdecken.

Amen.