Predigt zum 4. Fastensonntag am 30. März 2003
Lesung: 2 Chr. 36, 14-23;
Evangelium: Joh. 3, 14-21;
Autor: P.Heribert Graab S.J. 
Teilweise auf Gedanken von Bernhard Krauter in "Gottes Volk" 3/2003 aufbauend.
Wir sind dankbar, in einem Rechtsstaat zu leben.
Wir sind dankbar für eine unabhängige Justiz.
Dennoch - oder gerade deshalb - haben wir
einen enormen Respekt vor dem Gericht.
Und wir selbst möchten möglichst nichts damit zu tun haben.
Und kaum jemand von uns kann sich vorstellen,
als Angeklagter vor Gericht zu stehen.

So selbstbewußt wir uns jedoch
als „rechtschaffene Bürger" betrachten,
so wenig können wir uns gleichzeitig freimachen
von einer gewissen Sorge oder sogar Angst,
einmal vor unseren göttlichen Richter treten zu müssen,
vor dem dann unser ganzes Leben offen liegen wird.

Diese Sorge mag einmal begründet sein
in einem „schlechten Gewissen",
das sehr wohl um unsere eigenen Schwächen und Fehler,
und auch um Sünde und Schuld weiß.
Andererseits wurde Sorge und Angst im Menschen
durch Jahrhunderte hindurch
von „Obrigkeiten" unterschiedlichster Art geschürt.
Dahinter steckte offenkundig die Intention,
sich „brave" und möglichst „angepaßte Untertanen" zu „erziehen".
Das fing schon an bei den „Obrigkeiten" in der Familie.
Und bei dieser Art von Erziehung
wurde Gott instrumentalisiert
als Gott, „der alles sieht",
und als Gott, vor dessen Richterstuhl 
wir alle einmal Rechenschaft ablegen müssen.

Das Bild Gottes als „strafender Richter"
findet sich schon im Alten Testament:
Ein Beispiel haben wir heute in der Lesung gehört.
Da haben Theologen sich daran gemacht,
die konkret erfahrene Geschichte des Volkes Israel
theologisch zu deuten.

Fakt war:
Beim Volk Israel und zumal bei seiner Führungsschicht
war Gott in Vergessenheit geraten.
Man verehrte die Götzen der mächtigen Heidenvölker;
man scherte sich einen Dreck um die Mahnungen der Propheten Gottes;
man verfolgte eine reine Machtpolitik
auf dem Rücken der kleinen Leute.

Fakt war auch,
daß diese größenwahnsinnige Machtpolitik scheiterte,
daß die Babylonier - die Bibel nennt sie Chaldäer -
unter ihrem „König"
- oder sagen wir besser: unter ihrem Diktator - Nebukadnezar II. 
das Reich Juda mit seiner Metropole Jerusalem im Jahr 586 v.Chr.
in einem verheerenden Krieg total vernichtete
und die Oberschicht des Volkes nach Babylonien 
in Verbannung und Sklaverei verschleppte.

Fakt ist drittens,
daß schon wenige Jahrzehnte später
die Babylonier von der Großmacht Persien
unter ihrem Großkönig Kyros besiegt wurden,
und daß Kyros in Jerusalem den Tempel wieder aufbauen ließ.

Soweit die historischen Fakten.
Aktuell ist diese Geschichte insofern,
als sich all dies abspielte in einer Region,
die auch heute wieder der Schauplatz machtpolitischer Kriege ist:
Babylonien lag an Euphrat und Tigris
und war weitgehend identisch mit dem heutigen Irak.
Nebukadnezar war also so etwas wie ein Vorgänger Saddam Husseins,
und auch in ihrer verbrecherischen Art der Machtausübung
unterscheiden sie sich kaum.
Persien ist weitgehend identisch mit dem heutigen Iran.
Und es ist ja noch gar nicht so lange her,
daß es zwischen diesen beiden Ländern
einen blutigen und völkerrechtswidrigen Krieg gab.
Und wie damals ist von all dem
auch Israel existentiell betroffen.

Etwa 200 Jahre nach den historischen Ereignissen des Jahres 586 v.Chr.
wurde das Buch der Chronik aufgeschrieben -
und zwar von Theologen, die die historischen Fakten
geschichtstheologisch deuteten:
Da wurde also Nebukadnezar zu einem Werkzeug
in der Hand eines strafenden Gottes;
und ebenso wurde Kyros zum Werkzeug der Barmherzigkeit Gottes,
der sich in großer Güte und Vergebungsbereitschaft
Seines Volkes Israel erinnerte.

Spannend ist es zu sehen,
wie sich heute diese politiktheologischen Deutungsmuster wiederholen,
wie sich sowohl Saddam Hussein, als auch George W. Bush
als Werkzeuge in der Hand Gottes verstehen.

Werfen wir nun aber einen Blick auf das Neue Testament.
Da gibt es einmal - offenkundig weitverbreitet - die Vorstellung,
bereits Krankheit und persönliches Unheil hier und jetzt
seien zu verstehen als Gottes Strafe für persönliche Sünde.
So fragen die Jünger Jesu ihren Meister 
bei der Begegnung mit einem Blindgeborenen:
„Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst?
Ober haben seine Eltern gesündigt, 
so daß er blind geboren wurde?" (Joh. 9, 2)
Jesus distanziert sich eindeutig von dieser Unterstellung
eines Schuld-Strafe-Zusammenhangs.

Offenkundig sahen manche Christen der Frühzeit
auch in der Zerstörung Jerusalems und des Tempels
durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. 
ein Strafgericht Gottes als Konsequenz der Kreuzigung Jesu.
Nach dem Zeungis der Synoptiker (Mt., Mk., Lk.)
hat Jesus selbst diesen Untergang der Stadt vorausgesagt
und als die Folge des Unglaubens und der Abkehr von Gott gedeutet. (z.B. Mt.23, 37).
Allerdings läßt sich da nicht sauber unterscheiden
zwischen den Worten Jesu und der späteren Deutung
durch die Autoren der Evangelien.
Wie gesagt: Jesus war eher skeptisch
in Bezug auf einen so vordergründigen Schuld-Strafe-Zusammenhang.

Hinzu kommt, daß die Zerstörung Jerusalems
in einem engen Zusammenhang mit endzeitlichen Erwartungen
und mit dem großen Weltgericht am Ende der Zeiten geschildert wird.
Diese apokalyptischen Vorstellungen sind
aus dem Spätjudentum in das Evangelium eingedrungen.
Jesus selbst verhält sich solchen Vorstellungen gegenüber
sehr zurückhaltend.
Ihm ist es wichtiger zu betonen,
daß wir schon jetzt die Ankunft des „Reiches Gottes" erfahren,
„einen neuen Himmel und eine neue Erde",
und daß dieses „Neue" zu seiner Vollendung kommen wird,
„wenn der Menschensohn auf den Wolken des Himmels erscheint".

Aus dem apokalyptischen Denken des Spätjudentums 
ist im Neuen Testament vor allem das Buch der Offenbarung des Johannes
zu verstehen.
Auch da spielt in enger Verknüpfung mit dem großen Weltgericht 
die Strafe Gottes für eine politische Weltmacht
eine zentrale Rolle:
Rom ist - in Analogie zu Babylon -
dem Untergang geweiht
als Strafe für die blutige Verfolgung der ersten Christen.

All diese Gerichtsvorstellungen,
die nur teilweise auf Jesus selbst zurückgehen,
zu größeren Teilen jedoch der Vorstellungswelt 
der Zeit nach Jesu Tod entstammen,
haben seit dem Mittelalter sehr stark 
die Verkündigung der Kirche 
und den Glauben der Christen geprägt.

Nun haben wir heute aus dem Johannesevangelium einen Text gehört,
der einen ganz anderen Akzent setzt -
einen überraschenden Akzent insofern,
als die Sichtweise des Evangelisten Johannes
über viele Jahrhunderte hinweg in der Kirche fast vergessen schien.

Nach Johannes steht ganz im Vordergrund die Liebe Gottes.
Diese Liebe geht so weit,
daß Gott „Seinen einzigen Sohn" (sich selbst) hingab,
damit jeder, der an Ihn glaubt,
das ewige Leben hat.
„Gott hat Seinen sohn nicht in die Welt gesandt,
damit er die Welt richtet,
sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird."

Mit Jesus „kam das Licht in die Welt".
Aber sozusagen im gleichen Atemzug muß Johannes feststellen:
„Die Menschen liebten die Finsternis mehr
als das Licht; denn ihre Taten waren böse."
Sie verweigerten sich - und verweigern sich bis heute - dem Licht.
Darin besteht ihr Unglaube.
Und ihr Unglaube ist bereits das Gericht:
„Wer an Jesus Christus glaubt, wird nicht gerichtet;
wer nicht glaubt, ist schon gerichtet,
weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat."

Unglaube ist also Gericht!
Indem ein Mensch sehenden Auges und hörenden Ohres
die Botschaft ausschlägt,
ist eigentlich schon alles zum Unheil geschehen.
Das Hier und Heute der Entscheidung eines Menschen
wird ernst genommen.
Jetzt ereignet sich Heil oder Unheil;
jetzt geschieht Glaube oder Unglaube.
Das Gericht ist im Hier und Heute schon vollzogen.

Dieser Gedanke des Johannesevangeliums
steht allerdings eindeutig im Gegensatz
zum sogenannten modernen Lebensgefühl.
Da lautet die Devise:
Sich nur ja nicht festlegen,
keine endgültige Bindung eingehen,
sich möglichst alle Optionen offen halten,
„flexibel" sein bis zur Verbiegung und Charakterlosigkeit.
Auch im Hinblick auf Glaube und Religion
schaffen sich viele Menschen heute
eine eigene Weltanschauung und eine eigene Religion:
Da wird pluralistisch und jederzeit revidierbar
alles Mögliche zusammengemixt:
Elemente von Esoterik und New Age,
von Parapsychologie, ostasiatischen Religionen 
und Wiedergeburtsvorstellungen,
aber auch ein wenig Jesus von Nazareth -
ein buntes Gemengsel,
das sich um eine klare Entscheidung drückt.

Nein! Das Neue Testament kündet uns anderes:
Die Botschaft Jesu Christi ist verbindlich!
Sie verlangt eine eindeutige Glaubensentscheidung.
Damit ist das Hier und Heute wichtig
und ganz und gar ernst genommen:
Glaube bedeutet Hingabe an Gott und damit Heil.
Unglaube ist Verweigerung Gott gegenüber und damit Unheil.
Glaube braucht kein Gericht.
Unglaube ist Gericht.

Amen.