Predigt zum 5. Ostersonntag (A) 
am 28. April 2002
Anlaß: Der Amoklauf in einer Erfurter Schule am 26. April. 
Evangelium: Joh. 14, 1 - 12. 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
„Euer Herz lasse sich nicht verwirren!"
Nicht nur in Erfurt stehen auch heute noch
viele Menschen unter dem Schock 
des schrecklichen Ereignisses vom Freitag.

„Euer Herz lasse sich nicht verwirren!"
Wenn wir dieses Wort Jesu
in der aktuellen Schocksituation neu bedenken wollen,
sollten wir zunächst einen Blick auf die Situation werfen,
in die hinein Jesus dieses Wort damals gesagt hat:

Das Wort stammt aus den sogenannten Abschiedsreden Jesu,
die Johannes im Kontext des Abendmahls überliefert.
Sie sind also gesprochen zu einem Zeitpunkt,
da sich das mörderische Unwetter des Karfreitags
bereits drohend über Jesus und seinem Jüngerkreis zusammengezogen hat.
Jesus spricht ganz offen davon,
daß er „weggehen" und nur noch kurze Zeit bei seinen Freunden sein wird.
Sie alle verstehen nur zu gut,
was dieses Weggehen bedeutet.
Es geht um Leben und Tod.
Und Petrus will seinem Meister gar in den Tod folgen:
„Mein Leben will ich für dich hingeben."
Mit diesen Worten kaschiert Petrus in Wirklichkeit
seine Angst, sein inneres Durcheinander, seine Verwirrung.
„Dreimal wirst du mich verleugnen" -
so holt Jesus ihn auf den Boden der Tatsachen zurück,
und schließt unmittelbar eben dieses Wort an:
„Euer Herz lasse sich nicht verwirren!"

Natürlich löst der Amoklauf in Erfurt 
zunächst bei den unmittelbar Betroffenen,
dann aber auch bei vielen von uns
einen ähnlichen Schock aus,
wie ihn der Karfreitag damals bei den Jüngern auslöste.

Es bricht für viele eine Welt zusammen:
Was sich in Erfurt abspielte, war bisher unvorstellbar.
In Amerika - ja;
aber hier bei uns?
Man redet zwar kaum noch von „humanistischen" Gymnasien,
aber unsere Vorstellungen sind immer noch davon geprägt,
daß unsere Schulen ein Raum des menschlichen Miteinanders seien,
und daß sie zu Humanität erziehen.
Erfurt läßt diese Illusion wie eine Seifenblase zerplatzen.
Und jetzt stehen wir alle
- angefangen vom Bundespräsidenten 
bis hin zum letzten Fernsehzuschauer -
ratlos und verwirrt da.

Gibt es einen Sinn, sich auf diesem Hintergrund 
an das Wort des Evangeliums zu erinnern:
„Euer Herz lasse sich nicht verwirren!
Glaubt an Gott, und glaubt an mich!" ?

Macht es Sinn, ausgerechnet heute hervorzuheben,
daß wir als Christen immer noch Ostern feiern -
den Sieg des Lebens über alle Mächte des Todes?
Natürlich hat Johannes die Abschiedsreden Jesu
im Licht seines Osterglaubens aufgeschrieben.
Aber was bedeutet das heute - zwei Tage nach Erfurt?

Sicher wäre es zu kurz gegriffen und fast schon banal,
wollten wir die trauernden Angehörigen und Freunde der Toten von Erfurt
mit dem Hinweis auf Ostern, auf die „Auferstehung der Toten"
und auf das „ewige Leben" trösten.
Und doch haben am Freitagabend an die Tausend Menschen,
- und nicht nur Christen - 
Trost gesucht in Erfurter Kirchen.
Aber die christliche Osterbotschaft
und das Wort Jesu „Ich bin das Leben"
wird sie über den Tag hinaus nur dann erreichen,
wenn diese Botschaft nicht nur das „Jenseits des Todes" im Auge hat,
sondern ihre Kraft entfaltet mitten in diesem Leben hier,
mitten in der Verwirrung des 11. September 2001,
mitten in der Verwirrung des 26. April 2002.

Nicht nur in der deutschen Sprache,
sondern im Kern des Evangeliums vom auferstandenen Christus
stehen „Leben" und „Liebe" in einem engen inneren Zusammenhang.
Dementsprechend liegt die Bitte um Solidarität und Hilfsbereitschaft
des Ministerpräsidenten von Thüringen
durchaus auf der Linie des Evangeliums -
ganz im Gegensatz zu all den Rufen
nach mehr Sicherheitsmaßnahmen an unseren Schulen.
Selbst so bescheidene Zeichen
wie angezündete Lichter oder still gesprochene Fürbitten
sind Ausdruck von Liebe und Solidarität,
sind Ausdruck gläubigen Vertrauens in Den,
der Leben ist und Leben schenkt.
Wenn unsere eigene Verwirrung aufgefangen wird
von einem lebendigen Glauben an den Gott des Lebens
und an den auferstandenen Christus,
wenn vertrauensvoller, gelebter Glaube
zum ansteckenden Zeugnis wird für diejenigen,
„die keine Hoffnung haben,"
dann kann ein solches Glaubenszeugnis 
auch hilfreicher Trost sein. 

Es geht heute jedoch nicht nur um unsere „Verwirrung"
und um die „Verwirrung" der unmittelbar Betroffenen.
Es geht fast mehr noch um die Verwirrung vieler junger Menschen
in unseren Schulen, auf unseren Straßen und in unseren Familien.
„Euer Herz lasse sich nicht verwirren!"
heißt es im Evangelium.
Ich denke, es ist erlaubt, dieses Wort auszuweiten:
„Laßt nicht zu, daß junge Menschen in eurer Mitte verwirrt werden!
Glaubt an Gott und glaubt an mich!
Und gebt diesen Glauben weiter!"

Es wird in diesen Tagen sehr zu Recht
über viele Defizite in dieser Gesellschaft, 
in der Schule und in den Familien gesprochen.
Wir sollten uns an diesen Gesprächen durchaus beteiligen,
darüber aber auch und vor allem bedenken,
was wir als einzelne Christen und gemeinsam als Kirche
in den letzten Jahren versäumt haben und noch versäumen.

• Wenn vom allgemeinen Verlust von Werten die Rede ist,
dann sollten wir bedenken,
daß Werte im Glauben ihre Wurzeln haben
und ohne diese Wurzeln auf Dauer nicht überleben können.

• Wenn die zunehmende Gewalt beklagt wird,
dann sollten wir bedenken,
daß uns als Christen zu allererst 
die Sorge um Gewaltlosigkeit und Frieden aufgetragen ist.
Dann sollten wir endlich aufhören,
das Postulat der Gewaltlosigkeit in der Bergpredigt
als unrealistisch abzutun.
Dann sollte sich niemand von uns über den Christus an unserer Kirche,
„der das Gewehr zerbricht" aufregen.

• Wenn die verheerende Gewalt in den Medien
als eine Ursache von Gewalt in den Schulen diagnostiziert wird,
dann sollten wir uns fragen,
was wir dagegen unternommen haben,
inwieweit wir vom Bazillus falsch verstandener Liberalität angesteckt sind,
und wieweit wir unseren eigenen Fernsehkonsum
und den unserer Kinder unter Kontrolle haben. 

• Wenn als weitere Ursachen von Orientierungslosigkeit und Gewalt
unter Jugendlichen der Selbstverwirklichungswahn von Eltern,
deren Mangel an Zeit für ihre Kinder
und deren zerbrechende Ehen genannt werden,
dann sollten wir uns fragen,
wie‘s denn um Ehe und Familie unter Christen bestellt ist,
und warum auch unter Christen Ehe und Familie
nicht mehr den Ansprüchen gerecht wird.

Vor allem aber sollten wir nach unseren eigenen Werten
und nach unseren Prioritäten fragen:
Bereits am vergangenen Sonntag
ging es um die absolute Priorität und sogar Exklusivität
des Anspruches Jesu: „Ich bin die Tür!"
Die gleiche Exklusivität steckt heute in Seinem Wort
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!"
Nicht: Ein Weg unter vielen.
Nicht: „Wer weiß schon, was Wahrheit ist!"
Nicht: „Nimm dir vom Leben, was sich bietet!"
Sondern ganz schlicht und einfach:
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!"

Vielleicht zum Abschluß noch dies:
„Jesus sagte zu seinen Jüngern: Es ist unvermeidlich, 
daß Verführungen kommen. 
Aber wehe dem, der sie verschuldet.
Es wäre besser für ihn, man würde ihn 
mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen, 
als daß er einen von diesen Jugendlichen zum Bösen verführt.
Seht euch vor!" (Lk. 17, 1-3a).

Amen.