Dritte Fastenpredigt zum EXPO-Thema 
"Mensch - Natur - Technik" 
Diese dritte Fastenpredigt am 25. März 2000 hielt Pastor Erich Marahrens als Gast in der St.Michaelskirche. Erich Marahrens war Industrie- und Sozialpfarrer
und ist nun seit einigen Jahren Pastor unserer evangelischen Nachbargemeinde, der Gemeinde der Kreuzkirche. Sein Thema: "Gottes Gerechtigkeit - Die andere
Gerechtigkeit. Oder: Was wir wert sind". 
Bei der Vorbereitung auf diesen Gottesdienst fiel mir die folgende Geschichte eines 
kolumbianischen Großgrundbesitzers ein: 

Dieser hatte den Campesinos, den besitzlosenArbeitern, versprochen: Wer 40 Jahre bei ihm gearbeitet hätte, der sollte ein Stück Land zum Eigentum erhalten.
Doch dann rief er eines Tages alle seine Leute auf der Hazienda zusammen und erklärte ihnen, er wolle hinfort sein ganzes Land unter sie alle aufteilen. Die
Campesinos waren zuerst erstaunt und konnten es kaum glauben. In ihre Freude mischte sich freilich bald Empörung. Auch die zehn Indianer, die erst vor ein paar
Monaten aus dem Hochland heruntergekommen waren und sicher nach dem nächsten Regen, wenn ihr eigenes Land wieder mehr wert war, wieder verschwinden
würden - auch diese Indianer sollten an der Landvergabe beteiligt werden. Fast hätte es deswegen noch einen Aufruhr gegeben, aber der alte Hernandez blieb bei
seinem Entschluß. Niemand verstand, warum er alles hergab, was er besaß. Bisher hatten ihn alle anders eingeschätzt. Niemand hatte er auch vorher ins Vertrauen
gezogen - außer seinen Sohn Manolito. Der aber war unglaublicherweise einverstanden, obwohl es schließlich ihn am meisten betraf: Kein Geld, kein Besitz mehr für ihn, keine Möglichkeit zum Studium. Aber er war ja "sozial romantisch", wie der Padre des Dorfes verächtlich erklärte. 

Liebe Gemeinde, das ist doch ein Märchen, werden wir einwerfen. Denn wo in aller Welt  gibt es das, daß einer sein Ganzes Hab und Gut hergibt, zudem noch auf Kosten des eigenen Sohnes. Und selbst wenn es eine wahre Gesichte ist, das ist nur möglich in der 3. Welt, in Ländern krasser sozialer Unterschiede und Ungerechtigkeiten. Aber hier bei  uns? 

Diese Geschichte ist kein Märchen, aber sicherlich auch keine Alltagsgeschichte, in der wir uns ohne weiteres wiedererkennen. Mich hat sie gereizt, weil sie für mich ein Gleichnis dessen ist, was uns in der Bibel als Lebensdeutung und Lebenshilfe
zugemutet und zugesprochen wird. So auch in der "Geschichte von den Arbeitern im Weinberg", wie sie uns in Mt. 20 überliefert wird: 

Wenn Gott sein Werk vollendet, wird es sein wie bei einem Weinbergbesitzer, der früh am Morgen einige Leute für die Arbeit in seinem Weinberg anstellte. Er
einigte sich mit ihnen auf den üblichen Tageslohn von einem Silberstück, dann schickte er sie in den Weinberg. Um neun Uhr ging er wieder auf den Markt. und sah dort noch ein paar Männer arbeitslos herumstehen. Er sagte auch zu ihnen: "Ihr könnt in meinem Weinberg arbeiten, ich will euch angemessen bezahlen". Und sie
gingen hin. Genauso machte er es mittags und gegen drei Uhr. Selbst als er um fünf Uhr das letzte Mal zum Marktplatz ging, fand er noch einige herumstehen und
sagte zu ihnen: "Warum tut ihr den ganzen Tag nichts?" Sie antworteten. "Weil uns niemand eingestellt hat." Da sagte er: "Geht auch ihr noch hin und arbeitet in
meinem Weinberg!" 
Am Abend sagte der Besitzer des Weinberges zu seinem Verwalter: "Ruf die Leute zusammen und zahl allen ihren Lohn. Fang bei denen an, die zuletzt gekommen
sind, und höre bei den ersten auf." Die Männer, die erst um fünf angefangen hatten, traten hervor, und jeder bekam ein Silberstück. Als nun die an der Reihe waren,
die ganz früh angefangen hatten, dachten sie, sie würden entsprechend besser bezahlt, aber auch sie bekamen jeder ein Silberstück. Da schimpften sie über den
Besitzer und sagten: "Die anderen, die zuletzt gekommen sind, haben nur eine Stunde lang gearbeitet, und du behandelst sie genauso wie uns? Dabei haben wir den
ganzen Tag in der Hitze geschuftet." Da sagte der Weinbergbesitzer zu einem von ihnen: "Mein Lieber, ich tue dir kein Unrecht. Hatten wir uns nicht auf ein Silberstück geeinigt? Das hast du bekommen, und nun geh! Ich will nun mal dem letzten hier genausoviel geben wie dir! Ist es nicht meine Sache, was ich mit meinem Eigentum mache? Oder bist du neidisch, weil ich großzügig bin? Und Jesus schloß: "So werden die Letzten die Ersten sein, und die Ersten die Letzten." 

Auf den ersten Blick ist auch das eine für das reale Leben wenig brauchbare Weisheit, auf die dieses Gleichnis Jesu hinführt, gleichsam als Moral von der
Geschichte: "Die Ersten werden die Letzten sein." Als Christen sind wir gewöhnt, einen solchen Satz sofort im übertragenen Sinn zu deuten: als eine Aussage des
Glaubens über die ausgleichende Gerechtigkeit im einstmals anbrechenden "Reich Gottes". Nur so ertragen wir den Widerspruch zur Realität sozialer, materieller
und ökologischer Schieflagen in der Welt und bei uns. 
In Wahrheit ist es doch nicht nur in der 3. Welt, sondern auch bei uns so: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Schon Mitte der neunziger Jahre hatten
2,7% der Haushalte in unserem Lande Vermögenswerte von über einer Millionen DM (insgesamt 2780 Milliarden DM). Demgegenüber hatte 46,0% nur Vermögenswerte unter 100.000 DM (insgesamt nur 940 Milliarden DM). Oder: 131.000 Millionäre standen 2.269.000 Sozialhilfeempfängern gegenüber. 

Es wird immer schwieriger, für Gerechtigkeit zwischen denen da oben und denen da unten, zwischen der Spitze der Gesellschaft und den vielen Verarmten, zwischen Vollbeschäftigten und Arbeitslosen, zwischen Ost und West, Nord und Süd zu sorgen. Was also kann uns, die wir sicherlich unter dieser Entwicklung leiden, was kann vor allem  den eigentlich Betroffenen dieser Satz helfen: "Die Letzten werden die Ersten sein"? 

Werfen wir einen zweiten Blick auf das Gleichnis. Die Letzten, das waren damals die arbeitslosen Tagelöhner. Sie standen in den Dörfern und Städtchen Palästinas
schon vor Morgengrauen auf dem zentralen Platz und warteten auf den prüfenden Blick der Großbauern, die sie für einen Tag mieten würden. Meistens standen die
Arbeitslosen noch abends da; es gab mehr Tagelöhner als Arbeit - selbst in der Erntezeit. Und unter den Arbeitslosen gab es welche, die waren dann noch die
Letzten unter den Letzten: Wenn sie nicht mehr kräftig und arbeitsfähig waren, blieben sie garantiert übrig. 
Die Letzten, das waren also die, die arbeitslos waren und die die Not auch um ihre 
Menschenwürde brachte: sie mußten sich noch gegenseitig bekämpfen, unsolidarisch 
sein, um an die knappe Arbeit zu kommen. 

Und der Weinbergbesitzer? Er hatte sich zunächst noch ganz nach den Gesetzen der 
Ökonomie verhalten. Als er die Arbeiter etappenweise mietete: nur gerade soviel Arbeitskraft einkaufen, wie unbedingt nötig ist, sonst schmälert das den Profit. Als
es an die Auszahlung des Lohnes ging, hat er sich nicht mehr wie ein normaler Mensch verhalten. Er will denen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, auch den vollen Tageslohn geben, sie haben ja schließlich auch Familie zu Hause. Damit handelt er nicht mehr nach den Regeln der Rentabilität. 

Liebe Gemeinde, wo liegt nach dem zweiten Blick auf das Gleichnis der Nutzwert für unsere Situation? Für die Arbeitslosen unter uns mag diese ausgefallene Art von 
Entlohnung ja einen Sinn machen: für die Langzeitarbeitslosen, die Letzten in der sozialen Hierarchie bei uns. Aber die meisten von uns haben Arbeit, gehören nicht
zu diesen Letzten - und nach unserem Selbstverständnis auch nicht zu den Ersten. Was also solls? Wir sind nicht betroffen! 
Erst ein dritter Blick auf das Gleichnis kann uns vermitteln, wie verstrickt auch wir sind. Stellen wir uns vor, was die Ersten des Gleichnisses gedacht und gesagt haben mögen, als sie zu Hause ankamen und die Kritik des Gutsbesitzers sicher noch schwer in ihrem Magen lag. "Erst werden wir um den gerechten Lohn geprellt und dann auch noch um die  Moral - als seien wir die Bösen, weil wir auf einem fairen Lohn nach Leistung bestehen. Wenn unser Gutsbesitzer wirklich sozial wäre, hätte er alle Arbeiter am Morgen gleichzeitig eingestellt, alle gleichzeitig beginnen lassen. Denn das hätte drei Vorteile:Der erste: Die ganze Arbeit wäre schon in der neunten Stunde erledigt. Der zweite: Alle würden verdientermaßen den gleichen Lohn erhalten. Der dritte Vorteil: Alle könnten früher nach Hause gehen und hätten einen längeren Feierabend." 

Das meinen doch auch wir: Gleicher Lohn für gleiche Leistung! Haben viele von uns 
nicht zusammen mit den Gewerkschaften z.B. für dieses Ziel im Blick auf die Frauen 
gekämpft? Und ist nicht diese Art von Gerechtigkeit - in der protestantischen Ethik 
zumindest für meine Kirche - lange Zeit in dem einprägsamen Satz "Wer nicht arbeit, der soll auch nicht essen" sogar für Christen Handlungsrichtschnur gewesen?  Und daß die Gesetze der Ökonomie und des Marktes entscheidender für den Standort 
 Deutschland sind als das soziale Netz und ein abgeschirmter Zweiter Arbeitsmarkt - das ist nicht nur Mehrheitsmeinung unserer politischen Parteien, sondern auch Einsicht der meisten Bürger dieses Landes, einschließlich der Christen. 

So verinnerlicht haben wir diesen scheinbaren Lehrsatz der Vernunft, daß wir uns 
zufrieden geben mit oberflächlichen Schönheitsreparaturen an der Zweidrittel-zu-Eindrittel-Gesellschaft und ihren immer offener zutage tretenden Ungerechtigkeiten.

Weil wir - das ist jetzt klar - stärker in das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg verstrickt sind, weil wir zu den Ersten gehören in der eben beschriebenen grundsätzlichen Art unseres Leistungs- und Arbeitsverständnisses, müssen auch wir mit der Provokation "Die Ersten werden die Letzten sein" fertig werden. Dieser Satz am Ende des Gleichnisses ist mehr als eine fromme Redensart oder eine vage Korrektur irdischer Ungerechtigkeiten zugunsten himmlischer Gerechtigkeit. "Die Letzten werden die Ersten sein" - das war damals und ist heute der sehr ernst gemeinte Widerspruch gegenüber unbarmherzigen und ungerechten Lebensverhältnissen. Der Gott Jesu ist ein parteilicher Gott, der es nicht erträgt, milde lächelnd über den Konflikten zu schweben. 

Es gibt Menschen, die so leben, als seien die Letzten schon die Ersten. Manolito, der Sohn des kolumbianischen Großgrundbesitzers aus der eingangs erzählten Geschichte war so einer: Manolito ging bald nach den damaligen Ereignissen weg von zu Hause, nach Bogota. Einer geregelten Arbeit ging er dort nicht nach, wie man erfuhr. Vielmehr trieb er sich herum in den Elendsvierteln von Bogota. Bald kannten ihn dort alle: die Mitglieder der Kinderbanden, die Prostituierten oder Maria, die sich
und ihre drei Kinder durch Betteln ernährte. Ein Weißer in den Slums, das hatte man noch nie erlebt seit den Zeiten lsabels der Katholischen. Er redete mit allen Leuten, und bald kannte er sie auch. Es kam schließlich so weit, daß manche Manolito aufsuchten, wenn sie etwas wichtiges zu besprechen hatten. Andere schickten nach ihm, wenn es einen Streit zu schlichten galt oder wenn einer Selbstmord begehen wollte. Gut ging die Geschichte Manolitos nicht zu Ende. Bei einem Aufruhr wurde er als angeblicher Anstifter denunziert, verhaftet und nach drei Tagen, wie es 
lakonisch hieß, auf der Flucht erschossen. Vergessen wurde Manolito nicht. Einige sollen zum Nachdenken gekommen sein. Andere sollen versuchen, wie er zu
leben. 

Leben als seien die Letzten schon die Ersten. Monalito und z.B. Oskar Romero, dessen zwanzigsten Todestag wir gestern gedachten, haben den ganzen Ernst eines solchen Lebensentwurfes zu spüren bekommen. Sie haben dabei diesen Jesus vor Augen gehabt und Gott, den parteiischen Anwalt der Letzten, beim Wort genommen. Das sind gleichsam die großen Geschichten von der Gerechtigkeit Gottes, die so ganz anders ist, als unsere. Aber auch die kleinen Geschichten können zu Gleichnissen für uns werden. Gottes Gerechtigkeit wirkt hinein in unseren Alltag, wenn wir erzählt bekommen von der Kindergruppe, die sich verpflichtet hat, ein Zehntel ihres Taschengeldes für die Schulausbildung eines indischen Mädchens abzugeben; von dem Kirchenkreis, der ein Recyclingprojekt für schwer vermittelbare Arbeitslose durchführt; von der Frau, die Patin eines armenischen Asylantenkindes wird; von der Gemeinde, die ihr Gemeindehaus einer Sintigruppe zur Verfügung stellt. 

Leben als seien die Letzten schon die Ersten, das heißt nichts anderes, als daß Erste 
aufhören sich über Gottes Gerechtigkeit zu wundern oder zu ärgern, sondern sich 
anstecken lassen. Sie stellen nicht mehr die Fragen, die vorher ihr Leben bestimmten: Sind wir mehr wert als andere? Sind die anderen mehr wert? Haben sie mehr
Leistungskraft, mehr Kompetenz, mehr Charme, mehr Erfolg?Sie erlangen für sich eine Gewißheit, daß der tiefere Sinn von Gottes Gerechtigkeit nichts anderes ist als die Zusicherung: Dein Leben ist unbedingt wertvoll. Und darum hast du Gewißheit über das Entscheidende im Leben, auch wenn du vieles nicht hast, was andere 
haben. 

Liebe Gemeinde, müßte eine solche Gewißheit nicht auch uns reizen, Gottes Gerechtigkeit mehr zuzutrauen in ihrem Nutzwert für uns selbst und das Leben unserer Zeitgenossen? Wir sind keine schweigenden Opfer oder Mitläufer einer profitorientierten Welt. Wir sind lebendige Menschen, Geschöpfe Gottes. Wir haben die Erde versprochen bekommen und wissen, wie gut es Gott mit dieser Erde und mit uns meint. Wenn wir wirklich Gott beim Wort nehmen, dann haben wir große Kraft und bekommen Begabung für Barmherzigkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Solidarität. Laßt uns diese Begabung miteinander üben, jeden Tag. 

Amen.