Bei der Vorbereitung auf diesen Gottesdienst fiel mir die folgende
Geschichte eines
kolumbianischen Großgrundbesitzers ein:
Dieser hatte den Campesinos, den besitzlosenArbeitern, versprochen:
Wer 40 Jahre bei ihm gearbeitet hätte, der sollte ein Stück Land
zum Eigentum erhalten.
Doch dann rief er eines Tages alle seine Leute auf der Hazienda zusammen
und erklärte ihnen, er wolle hinfort sein ganzes Land unter sie alle
aufteilen. Die
Campesinos waren zuerst erstaunt und konnten es kaum glauben. In ihre
Freude mischte sich freilich bald Empörung. Auch die zehn Indianer,
die erst vor ein paar
Monaten aus dem Hochland heruntergekommen waren und sicher nach dem
nächsten Regen, wenn ihr eigenes Land wieder mehr wert war, wieder
verschwinden
würden - auch diese Indianer sollten an der Landvergabe beteiligt
werden. Fast hätte es deswegen noch einen Aufruhr gegeben, aber der
alte Hernandez blieb bei
seinem Entschluß. Niemand verstand, warum er alles hergab, was
er besaß. Bisher hatten ihn alle anders eingeschätzt. Niemand
hatte er auch vorher ins Vertrauen
gezogen - außer seinen Sohn Manolito. Der aber war unglaublicherweise
einverstanden, obwohl es schließlich ihn am meisten betraf: Kein
Geld, kein Besitz mehr für ihn, keine Möglichkeit zum Studium.
Aber er war ja "sozial romantisch", wie der Padre des Dorfes verächtlich
erklärte.
Liebe Gemeinde, das ist doch ein Märchen, werden wir einwerfen.
Denn wo in aller Welt gibt es das, daß einer sein Ganzes Hab
und Gut hergibt, zudem noch auf Kosten des eigenen Sohnes. Und selbst wenn
es eine wahre Gesichte ist, das ist nur möglich in der 3. Welt, in
Ländern krasser sozialer Unterschiede und Ungerechtigkeiten. Aber
hier bei uns?
Diese Geschichte ist kein Märchen, aber sicherlich auch keine Alltagsgeschichte,
in der wir uns ohne weiteres wiedererkennen. Mich hat sie gereizt, weil
sie für mich ein Gleichnis dessen ist, was uns in der Bibel als Lebensdeutung
und Lebenshilfe
zugemutet und zugesprochen wird. So auch in der "Geschichte von den
Arbeitern im Weinberg", wie sie uns in Mt. 20 überliefert wird:
Wenn Gott sein Werk vollendet, wird es sein wie bei einem Weinbergbesitzer,
der früh am Morgen einige Leute für die Arbeit in seinem Weinberg
anstellte. Er
einigte sich mit ihnen auf den üblichen Tageslohn von einem Silberstück,
dann schickte er sie in den Weinberg. Um neun Uhr ging er wieder auf den
Markt. und sah dort noch ein paar Männer arbeitslos herumstehen. Er
sagte auch zu ihnen: "Ihr könnt in meinem Weinberg arbeiten, ich will
euch angemessen bezahlen". Und sie
gingen hin. Genauso machte er es mittags und gegen drei Uhr. Selbst
als er um fünf Uhr das letzte Mal zum Marktplatz ging, fand er noch
einige herumstehen und
sagte zu ihnen: "Warum tut ihr den ganzen Tag nichts?" Sie antworteten.
"Weil uns niemand eingestellt hat." Da sagte er: "Geht auch ihr noch hin
und arbeitet in
meinem Weinberg!"
Am Abend sagte der Besitzer des Weinberges zu seinem Verwalter: "Ruf
die Leute zusammen und zahl allen ihren Lohn. Fang bei denen an, die zuletzt
gekommen
sind, und höre bei den ersten auf." Die Männer, die erst
um fünf angefangen hatten, traten hervor, und jeder bekam ein Silberstück.
Als nun die an der Reihe waren,
die ganz früh angefangen hatten, dachten sie, sie würden
entsprechend besser bezahlt, aber auch sie bekamen jeder ein Silberstück.
Da schimpften sie über den
Besitzer und sagten: "Die anderen, die zuletzt gekommen sind, haben
nur eine Stunde lang gearbeitet, und du behandelst sie genauso wie uns?
Dabei haben wir den
ganzen Tag in der Hitze geschuftet." Da sagte der Weinbergbesitzer
zu einem von ihnen: "Mein Lieber, ich tue dir kein Unrecht. Hatten wir
uns nicht auf ein Silberstück geeinigt? Das hast du bekommen, und
nun geh! Ich will nun mal dem letzten hier genausoviel geben wie dir! Ist
es nicht meine Sache, was ich mit meinem Eigentum mache? Oder bist du neidisch,
weil ich großzügig bin? Und Jesus schloß: "So werden die
Letzten die Ersten sein, und die Ersten die Letzten."
Auf den ersten Blick ist auch das eine für das reale Leben wenig
brauchbare Weisheit, auf die dieses Gleichnis Jesu hinführt, gleichsam
als Moral von der
Geschichte: "Die Ersten werden die Letzten sein." Als Christen sind
wir gewöhnt, einen solchen Satz sofort im übertragenen Sinn zu
deuten: als eine Aussage des
Glaubens über die ausgleichende Gerechtigkeit im einstmals anbrechenden
"Reich Gottes". Nur so ertragen wir den Widerspruch zur Realität sozialer,
materieller
und ökologischer Schieflagen in der Welt und bei uns.
In Wahrheit ist es doch nicht nur in der 3. Welt, sondern auch bei
uns so: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Schon Mitte der
neunziger Jahre hatten
2,7% der Haushalte in unserem Lande Vermögenswerte von über
einer Millionen DM (insgesamt 2780 Milliarden DM). Demgegenüber hatte
46,0% nur Vermögenswerte unter 100.000 DM (insgesamt nur 940 Milliarden
DM). Oder: 131.000 Millionäre standen 2.269.000 Sozialhilfeempfängern
gegenüber.
Es wird immer schwieriger, für Gerechtigkeit zwischen denen da
oben und denen da unten, zwischen der Spitze der Gesellschaft und den vielen
Verarmten, zwischen Vollbeschäftigten und Arbeitslosen, zwischen Ost
und West, Nord und Süd zu sorgen. Was also kann uns, die wir sicherlich
unter dieser Entwicklung leiden, was kann vor allem den eigentlich
Betroffenen dieser Satz helfen: "Die Letzten werden die Ersten sein"?
Werfen wir einen zweiten Blick auf das Gleichnis. Die Letzten, das waren
damals die arbeitslosen Tagelöhner. Sie standen in den Dörfern
und Städtchen Palästinas
schon vor Morgengrauen auf dem zentralen Platz und warteten auf den
prüfenden Blick der Großbauern, die sie für einen Tag mieten
würden. Meistens standen die
Arbeitslosen noch abends da; es gab mehr Tagelöhner als Arbeit
- selbst in der Erntezeit. Und unter den Arbeitslosen gab es welche, die
waren dann noch die
Letzten unter den Letzten: Wenn sie nicht mehr kräftig und arbeitsfähig
waren, blieben sie garantiert übrig.
Die Letzten, das waren also die, die arbeitslos waren und die die Not
auch um ihre
Menschenwürde brachte: sie mußten sich noch gegenseitig
bekämpfen, unsolidarisch
sein, um an die knappe Arbeit zu kommen.
Und der Weinbergbesitzer? Er hatte sich zunächst noch ganz nach
den Gesetzen der
Ökonomie verhalten. Als er die Arbeiter etappenweise mietete:
nur gerade soviel Arbeitskraft einkaufen, wie unbedingt nötig ist,
sonst schmälert das den Profit. Als
es an die Auszahlung des Lohnes ging, hat er sich nicht mehr wie ein
normaler Mensch verhalten. Er will denen, die nur eine Stunde gearbeitet
haben, auch den vollen Tageslohn geben, sie haben ja schließlich
auch Familie zu Hause. Damit handelt er nicht mehr nach den Regeln der
Rentabilität.
Liebe Gemeinde, wo liegt nach dem zweiten Blick auf das Gleichnis der
Nutzwert für unsere Situation? Für die Arbeitslosen unter uns
mag diese ausgefallene Art von
Entlohnung ja einen Sinn machen: für die Langzeitarbeitslosen,
die Letzten in der sozialen Hierarchie bei uns. Aber die meisten von uns
haben Arbeit, gehören nicht
zu diesen Letzten - und nach unserem Selbstverständnis auch nicht
zu den Ersten. Was also solls? Wir sind nicht betroffen!
Erst ein dritter Blick auf das Gleichnis kann uns vermitteln, wie verstrickt
auch wir sind. Stellen wir uns vor, was die Ersten des Gleichnisses gedacht
und gesagt haben mögen, als sie zu Hause ankamen und die Kritik des
Gutsbesitzers sicher noch schwer in ihrem Magen lag. "Erst werden wir um
den gerechten Lohn geprellt und dann auch noch um die Moral - als
seien wir die Bösen, weil wir auf einem fairen Lohn nach Leistung
bestehen. Wenn unser Gutsbesitzer wirklich sozial wäre, hätte
er alle Arbeiter am Morgen gleichzeitig eingestellt, alle gleichzeitig
beginnen lassen. Denn das hätte drei Vorteile:Der erste: Die ganze
Arbeit wäre schon in der neunten Stunde erledigt. Der zweite: Alle
würden verdientermaßen den gleichen Lohn erhalten. Der dritte
Vorteil: Alle könnten früher nach Hause gehen und hätten
einen längeren Feierabend."
Das meinen doch auch wir: Gleicher Lohn für gleiche Leistung! Haben
viele von uns
nicht zusammen mit den Gewerkschaften z.B. für dieses Ziel im
Blick auf die Frauen
gekämpft? Und ist nicht diese Art von Gerechtigkeit - in der protestantischen
Ethik
zumindest für meine Kirche - lange Zeit in dem einprägsamen
Satz "Wer nicht arbeit, der soll auch nicht essen" sogar für Christen
Handlungsrichtschnur gewesen? Und daß die Gesetze der Ökonomie
und des Marktes entscheidender für den Standort
Deutschland sind als das soziale Netz und ein abgeschirmter Zweiter
Arbeitsmarkt - das ist nicht nur Mehrheitsmeinung unserer politischen Parteien,
sondern auch Einsicht der meisten Bürger dieses Landes, einschließlich
der Christen.
So verinnerlicht haben wir diesen scheinbaren Lehrsatz der Vernunft,
daß wir uns
zufrieden geben mit oberflächlichen Schönheitsreparaturen
an der Zweidrittel-zu-Eindrittel-Gesellschaft und ihren immer offener zutage
tretenden Ungerechtigkeiten.
Weil wir - das ist jetzt klar - stärker in das Gleichnis Jesu von
den Arbeitern im Weinberg verstrickt sind, weil wir zu den Ersten gehören
in der eben beschriebenen grundsätzlichen Art unseres Leistungs- und
Arbeitsverständnisses, müssen auch wir mit der Provokation "Die
Ersten werden die Letzten sein" fertig werden. Dieser Satz am Ende des
Gleichnisses ist mehr als eine fromme Redensart oder eine vage Korrektur
irdischer Ungerechtigkeiten zugunsten himmlischer Gerechtigkeit. "Die Letzten
werden die Ersten sein" - das war damals und ist heute der sehr ernst gemeinte
Widerspruch gegenüber unbarmherzigen und ungerechten Lebensverhältnissen.
Der Gott Jesu ist ein parteilicher Gott, der es nicht erträgt, milde
lächelnd über den Konflikten zu schweben.
Es gibt Menschen, die so leben, als seien die Letzten schon die Ersten.
Manolito, der Sohn des kolumbianischen Großgrundbesitzers aus der
eingangs erzählten Geschichte war so einer: Manolito ging bald nach
den damaligen Ereignissen weg von zu Hause, nach Bogota. Einer geregelten
Arbeit ging er dort nicht nach, wie man erfuhr. Vielmehr trieb er sich
herum in den Elendsvierteln von Bogota. Bald kannten ihn dort alle: die
Mitglieder der Kinderbanden, die Prostituierten oder Maria, die sich
und ihre drei Kinder durch Betteln ernährte. Ein Weißer
in den Slums, das hatte man noch nie erlebt seit den Zeiten lsabels der
Katholischen. Er redete mit allen Leuten, und bald kannte er sie auch.
Es kam schließlich so weit, daß manche Manolito aufsuchten,
wenn sie etwas wichtiges zu besprechen hatten. Andere schickten nach ihm,
wenn es einen Streit zu schlichten galt oder wenn einer Selbstmord begehen
wollte. Gut ging die Geschichte Manolitos nicht zu Ende. Bei einem Aufruhr
wurde er als angeblicher Anstifter denunziert, verhaftet und nach drei
Tagen, wie es
lakonisch hieß, auf der Flucht erschossen. Vergessen wurde Manolito
nicht. Einige sollen zum Nachdenken gekommen sein. Andere sollen versuchen,
wie er zu
leben.
Leben als seien die Letzten schon die Ersten. Monalito und z.B. Oskar
Romero, dessen zwanzigsten Todestag wir gestern gedachten, haben den ganzen
Ernst eines solchen Lebensentwurfes zu spüren bekommen. Sie haben
dabei diesen Jesus vor Augen gehabt und Gott, den parteiischen Anwalt der
Letzten, beim Wort genommen. Das sind gleichsam die großen Geschichten
von der Gerechtigkeit Gottes, die so ganz anders ist, als unsere. Aber
auch die kleinen Geschichten können zu Gleichnissen für uns werden.
Gottes Gerechtigkeit wirkt hinein in unseren Alltag, wenn wir erzählt
bekommen von der Kindergruppe, die sich verpflichtet hat, ein Zehntel ihres
Taschengeldes für die Schulausbildung eines indischen Mädchens
abzugeben; von dem Kirchenkreis, der ein Recyclingprojekt für schwer
vermittelbare Arbeitslose durchführt; von der Frau, die Patin eines
armenischen Asylantenkindes wird; von der Gemeinde, die ihr Gemeindehaus
einer Sintigruppe zur Verfügung stellt.
Leben als seien die Letzten schon die Ersten, das heißt nichts
anderes, als daß Erste
aufhören sich über Gottes Gerechtigkeit zu wundern oder zu
ärgern, sondern sich
anstecken lassen. Sie stellen nicht mehr die Fragen, die vorher ihr
Leben bestimmten: Sind wir mehr wert als andere? Sind die anderen mehr
wert? Haben sie mehr
Leistungskraft, mehr Kompetenz, mehr Charme, mehr Erfolg?Sie erlangen
für sich eine Gewißheit, daß der tiefere Sinn von Gottes
Gerechtigkeit nichts anderes ist als die Zusicherung: Dein Leben ist unbedingt
wertvoll. Und darum hast du Gewißheit über das Entscheidende
im Leben, auch wenn du vieles nicht hast, was andere
haben.
Liebe Gemeinde, müßte eine solche Gewißheit nicht auch
uns reizen, Gottes Gerechtigkeit mehr zuzutrauen in ihrem Nutzwert für
uns selbst und das Leben unserer Zeitgenossen? Wir sind keine schweigenden
Opfer oder Mitläufer einer profitorientierten Welt. Wir sind lebendige
Menschen, Geschöpfe Gottes. Wir haben die Erde versprochen bekommen
und wissen, wie gut es Gott mit dieser Erde und mit uns meint. Wenn wir
wirklich Gott beim Wort nehmen, dann haben wir große Kraft und bekommen
Begabung für Barmherzigkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Solidarität.
Laßt uns diese Begabung miteinander üben, jeden Tag.
Amen. |