Predigt zum 1. Adventssonntag (C)
am 29. November 2015
Lesung:  Jer. 33, 14-16
Evangelium: Lk. 21, 25-28.34-36
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Die liturgischen Texte um die Wende des Kirchenjahres
kreisen um das Ende der Zeit.
„Die Menschen werden vor Angst vergehen
in der Erwartung der Dinge, die dann über die Erde kommen,“
sagt Jesus im heutigen Evangelium.
Und in der christlichen Tradition ist das Ende der Zeiten
eng verknüpft mit dem ‚Jüngsten Gericht‘,
über das Jesus im Matthäusevangelium spricht.

Mehr aber als die biblischen Texte hat ein berühmtes Kunstwerk
unsere Vorstellungen vom Ende der Zeiten geprägt;
und nicht zuletzt auch unsere oft angstbesetzten Vorstellungen
vom Ende unseres eigenen Lebens:
Ich denke an Michelangelos ‚Jüngstes Gericht‘
in der Sixtinischen Kapelle.

Ausgerechnet ein Kölner Erzbischof, nämlich Kardinal Frings,
hat dazu in seinen alten Tagen einen deutlichen Kontrast formuliert.
Er sagte: 
„Die Kölner sind überzeugt: ‚Dr leeve Jott is nit esu‘.
Als Bischof habe ich mich lange darum bemüht,
den Kölnern dieses laxe (‚barmherzige‘) Gottesbild auszutreiben.
Jetzt aber, da ich alt geworden bin, ist meine große Hoffnung,
daß die Kölner Recht behalten.“

Die biblischen Texte des heutigen Ersten Advent
stützen die Altersweisheit des Kardinals.
Die Jeremia-Lesung spricht vom König der Endzeit,
der endlich für Recht und Gerechtigkeit sorgen
und sein Volk retten wird,
so daß die Menschen in Sicherheit leben können.
Und das Evangelium ermutigt uns,
uns aufzurichten, unsere Häupter zu erheben;
denn unsere Erlösung, also unsere Rettung
und unsere Befreiung von allen Ängsten sei nahe.

Ganz in diesem Sinne wird Papst Franziskus nicht müde,
immer wieder von Gottes Barmherzigkeit zu sprechen.
Leider gibt es in unserer Kirche nicht wenige,
die darin ein ‚weichgespültes‘ Christentum sehen,
um nicht zu sagen: eine Art ‚humanitärer Gefühlsduselei‘.
Nach deren Ansicht geht es im Glauben
vor allem um ‚klare‘ Lehre der Kirche,
oder gar um die ‚unanfechtbaren‘
und in diesem Sinne ‚harten‘ Lehrsätze, bzw. Dogmen.

Allerdings ist die Barmherzigkeit in der Bibel
eine der herausragenden Eigenschaften Gottes.
In der zentralen Gottesoffenbarung am Sinai
gibt sich JHWH zu erkennen:
„Der HERR ist ein barmherziger und gnädiger Gott,
langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ex. 34,6 pp).

Auch Jesus beschreibt Gott z. B. im Gleichnis vom verlorenen Sohn
als unendlich großzügigen, jederzeit vergebungsbereiten
und barmherzigen „Vater“.
Theologisch heißt das doch:
Gott begegnet uns Menschen mit einer irdisch unverdienten,
aber himmlisch großzügigen Zuwendung in bedingungsloser Liebe.

Damit macht sich Jesus dieses wunderschöne Bild
des Propheten Jesaja zu eigen:
„Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen,
eine Mutter ihren leiblichen Sohn?
Und selbst wenn sie ihn vergessen würde:
Ich vergesse dich nicht.“ (Jes. 49,15)

Franziskus zieht daraus die unausweichliche Konsequenz:
„Die Kirche muß der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein,
wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können,
wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können,
der barmherzigen Botschaft Jesu Christi entsprechend zu leben. (EG 114)

Noch einmal Jesus selbst:
»Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!
Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden.
Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden.
Erlaßt einander die Schuld,
dann wird auch euch die Schuld erlassen werden.
Gebt, dann wird auch euch gegeben werden […]
nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt,
wird auch euch zugeteilt werden« (Lk. 6,36-38).
Von wegen ‚weichgespült‘!

 „Barmherzigkeit” hat nichts mit ‚Gefühlsduselei‘ zu tun;
es geht nicht einmal in erster Linie um ein Mit-Fühlen;
vielmehr geht es um handfeste, tatkräftige Großherzigkeit.
Das ‚klassische‘ Beispiel Jesu dafür
ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk. 10,25–37) .
Dieser Samariter ist eben nicht ‚rechtgläubig‘ im Sinne der Theologen.
Aber gerade er beschämt die ‚rechtgläubigen‘ Hörer des Gleichnisses.
Gerade ihn wählt Jesus als Beispiel eines gelebten Glaubens.

Dieser Samariter lebt also den Kern des Glaubens:
„Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk. 6,36)
So findet sich dieser gelebte Glaube des Samariters
auch an zentraler Stelle des theologischen Manifestes Jesu,
also in Seiner Bergpredigt:
„Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt. 5,7)

In der christlichen Tradition haben dementsprechend
die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit
einen zentralen Stellenwert.
Können Sie die noch aufzählen???
‚Früher‘ haben wir die schon als Kinder gelernt.
Eine kleine Gedächtnisauffrischung:

Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit
    Die Hungrigen speisen.
    Den Dürstenden zu trinken geben.
    Die Nackten bekleiden.
    Die Fremden aufnehmen.
    Die Kranken besuchen.
    Die Gefangenen besuchen.
    Die Toten begraben.

Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit
    Die Unwissenden lehren.
    Den Zweifelnden recht raten.
    Die Betrübten trösten.
    Die Sünder zurechtweisen.
    Die Lästigen geduldig ertragen.
    Denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen.
    Für die Lebenden und die Toten beten.

Auch in Zeiten des modernen Sozialstaates
ist diese Barmherzigkeit aus dem Glauben unverzichtbar:
Sonst würden gar zu viele Notleidenden
durch das ‚soziale Netz‘ hindurchfallen,
und neue Notlagen würden wir gar nicht erst entdecken.
Barmherzigkeit muß uns immer wieder neu sensibel machen
für die wirkliche Not der Menschen,
die sich nur sehr begrenzt in Paragraphen wiedergeben läßt.
„Barmherzigkeit ist der Quellgrund der sozialen Gerechtigkeit.“
    (Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1995)
Oder das Motto einiger Jesuitenzeitschriften
für das Jahr der Barmherzigkeit:
„Eine barmherzige Kirche für eine verwundete Welt.“

Abschließend:
•    Gottes Barmherzigkeit ist für uns alle ein Trost
    und befreit uns von unseren Ängsten.   
•    Gottes Barmherzigkeit ist zugleich ein Ansporn,
    Seine Barmherzigkeit auch in unserem Leben zu bezeugen.
•    Für den Advent kurz zusammengefaßt:
    Mach’s wie Gott! Werde Mensch!

Amen.