Predigt zum 1. Advent im Jahreskreis A
am 28. November 2004
1. Lesung: Jes. 2, 1 - 5;
2. Lesung: Röm. 13, 11 - 14 a;
Evangelium: Mt. 24, 37 - 44;
Auotr. P.Heribert Graab S.J.
Die Gottesstadt Jerusalem, der Tempelberg Sion -
sie liegen noch dunkel da in dieser ersten Szene unserer Adventskrippe.
Vor diesem Hintergrund haben sich fünf Propheten versammelt
und verkünden gegen die Dunkelheit
ihre Visionen vom aufleuchtenden Licht,
vom kommenden Friedensfürst,
vom Stern, der aufgeht über Gottes Volk,
und von der Freude, die allen Menschen geschenkt werden wird.

In der Lesung dieses 1. Adventssonntags
haben wir von einer der beglückenden Visionen des Jesaja gehört:
Er sieht die vielen Völker und Nationen in versöhnter Vielfalt
hinaufziehen zum Berg des Herrn und zu Seinem Tempel.
Er spricht von der Gerechtigkeit Gottes,
die Wirklichkeit werden wird im Miteinander der Menschen weltweit.
In dieser wunderbaren Lesung findet sich das faszinierende Wort:
„Die Nationen schmieden Pflugscharen aus ihren Schwertern
und Winzermesser aus ihren Lanzen."

Dies Wort hat unzählige Menschen beflügelt
während der großen Zeiten der Friedensbewegung.
Vor allem Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR
haben vor der „Wende" auf dieses Wort ihre Hoffnung gesetzt.
Heute noch steht jener Schmied,
der Schwerter zu Pflugscharen umschmiedet,
als hoffnungsträchtiges Mahnmal vor dem Gebäude der UN in New York.

Woher gewinnen Menschen immer wieder solch eine Hoffnung?
Woher nehmen die Propheten die Gewißheit,
mit solch eindringlicher Kraft diese Hoffnung zu verkünden?

Die Schilderungen der Heiligen Schrift sprechen von Visionen,
die ihnen geschenkt wurden von Gott selbst.
Aber was meint diese Redeweise von „Visionen"?

Haben jene Propheten wirklich nur ihre Träume,
ihre Sehnsucht und ihre tiefsten Wünsche
mit der Berufung auf Gott zum Ausdruck gebracht?
Haben sie nur in utopischen Bildern
von der Zukunft der Menscheit gesprochen?

Mir scheint:
So sehr sich auch ihre Visionen
auf eine geglückte Zukunft der Menschen und Völker bezog,
so sehr speisten sich eben diese Visionen
doch auch aus erfahrener Gegenwart.
„Aus Visionen leben" bedeutet nicht nur
im Blick auf die Zukunft leben.
Visionen haben es mehr noch mit Erfahrungen im Heute zu tun.
Visionen zu haben heißt:
Mit guten Augen, mit den Augen Gottes zu schauen
und zu entdecken, wo sich heute schon
Seine Zukunft und Seine Friedensherrschaft ereignet.

Wir sprechen zu Recht vom „Wunder" jener gewaltlosen Revolution,
die die „Wende" möglich machte.
Symbolträchtiger Ort dieses Wunders
war die Leipziger Nikolaikirche.
Nicht von ungefähr hat sich in einer Kirche
das Wesentliche dieses wunderbaren Geschehens abgespielt.
Hier wurde für uns nüchterne Menschen des 20. Jahrhunderts
etwas sichtbar, was die Propheten im Blick auf ähnliche Erfahrungen ihrer Zeit
als „Vision" zum Ausdruck brachten.

Wir alle könnten „Visionäre" sein - wie die Propheten damals,
wenn wir nur unsere Augen
nicht an der Garderobe der Medien abgeben würden;
wenn wir uns vielmehr den Luxus leisteten,
mit unseren eigenen Augen,
und zwar mit durch den Glauben geschulten Augen zu sehen.

Ich habe in diesen Tagen im aktuellen Jahrbuch meines Ordens gelesen
und auch in der neuesten Ausgabe von „weltweit",
der Zeitschrift deutscher Jesuiten über ihr weltweites Engagement.
Eine solche Lektüre ist allein schon deshalb segensreich,
weil sie unseren resignierenden Blick einer alten und vergehenden Welt
weitet für das, was „global" geschieht,
und was Kirche mit Gottes Gnade wirkt
jenseits unseres begrenzten Kirchturmhorizonts.

Da wird z.B. berichtet von drei Jesuiten,
die gemeinsam einen Neuanfang machen
in einer scheinbar gottverlassenen Region Indiens.
Dort leben Menschen der untersten und elendsten Schichten
des indischen Kastensystems unter menschenunwürdigen Bedingungen.
Selbst die Kirche dort ist ihrerseits erbärmlich heruntergekommen.

Diese drei „Visionäre" jedoch
- zwei junge Leute und ein mehr als 70-Jähriger -
sehen die Menschen und die Würde selbst derer,
die im Elend und ohne Hoffnung leben.
Sie verstehen es, unter diesen Menschen neue Hoffnung
und damit neue Energien zu wecken.
Sie entwerfen mit diesen Menschen selbst
Konzepte und Programme für ein zukunftsträchtiges und menschenwürdiges Leben.
Es entstehen Schulen und Krankenstationen.
Frauen werden aus der Notwendigkeit befreit,
sich selbt und ihre Familien durch Prostitution zu ernähren.
Es ereignet sich ganz konkret ein Aufbruch
in jene lichtvolle Zukunft, von der die Propheten immer wieder sprechen.

Wir haben uns angewöhnt,
den christlichen Glauben als etwas Kraftloses,
als eine sterbende Wirklichkeit vergangener Zeiten
zu betrachten.
Resignierend blicken wir bei uns auf eine Kirche,
die anscheinend nichts mehr bewegt,
die vielmehr immer wieder auch in Skandale verstrickt ist.

In anderen Zusammenhängen reden wir von „Globalisierung",
übersehen dabei aber,
daß unsere Kirche die älteste globale Wirklichkeit ist.
Die „Visionen" heutiger Propheten
könnten ihren Stoff und ihre Bilder aber gerade aus dem gewinnen,
was Gott heute schon in dieser globalen Kirche wirkt.
Wenn wir wirklich mit offenen Augen
nicht nur vor unsere eigenen Füße schauen würden,
könnten wir entdecken,
daß anderenorts Gottes neue Stadt und Seine Zukunft
bereits jetzt kraftvoll sich entwickelnde Wirklichkeit ist.

Wessen Horizont durch den Blick
nur vom eigenen Kirchturm begrenzt ist,
der wird niemals Visionen haben
und in seiner eigenen Resignation versauern.

Lassen wir uns also von Paulus ins Gewissen reden:
„Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf.
Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe."
Reiben wir uns die Augen, wie wir es morgens beim Aufstehen tun!
Nehmen wir die ganze Wirklichkeit in den Blick -
und das mit guten Augen, mit prophetischen Augen,
mit den Augen Gottes!
Seien wir im Sinne der Worte Jesu „wachsam",
damit wir Gottes Zukunft nicht verschlafen!

Und dann laßt uns nicht nur den resignierten Blick ablegen,
sondern konsequenterweise
„laßt uns ablegen die Werke der Finsernis
und anlegen die Waffen des Lichtes".
Laßt uns „als neues Gewand den Herrn Jesus Christus anlegen",
mit Seinen Augen sehen,
mit Seinen Händen und mit Seinen Füßen
diese Welt verändern.
Laßt uns so „unsere Wege gehen im Licht des Herrn".

Amen.