Predigt zum 1. Advent (C) am 30. November 2003
Lesung: Jer. 33, 14-16
Evangelium: Lk. 21, 25-28.34-36
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Die Erinnerung an die Vergangenheit 
hilft uns, die Gegenwart zu verstehen.
Zudem prägen Vergangenheitserinnerungen
und Gegenwartserfahrungen
unsere Erwartungen im Blick auf die Zukunft.
Das Wissen um diese Zusammenhänge
nennt man Geschichtsbewußtsein.

Mir begegnen immer wieder Menschen,
deren Geschichtsbewußtsein weitgehend bestimmt ist
durch Katastrophenerfahrungen -
sowohl aus ihrer persönlichen Lebensgeschichte,
als auch aus der Geschichte der Menscheit.
Solche Menschen tun sich oft schwer,
ihrem Leben etwas Positives abzugewinnen,
darin einen „Sinn" zu entdecken
und hoffnungsvolle Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Im Gegensatz dazu ist das Geschichtsbewußtsein anderer
vor allem bestimmt durch einen optimistischen Fortschrittsglauben,
der - trotz aller Gegenschläge - die Geschichte versteht
als eine im Wesentlichen positive Entwicklung
zu mehr Lebensqualität, ja sogar zu mehr Menschlichkeit.

Letztlich steckt hinter der einen, wie der anderen Sicht
eine sagenhafte Fehleinschätzung menschlicher Geschichte:
• Auf der einen Seite gehen manche davon aus,
diese Geschichte sei Tummelfeld eines menschenfeindlichen „Schicksals";
oder sie trauen dem Menschen selbst nur Schlechtes zu. 
• Auf der anderen Seite steht ebenfalls 
eine grenzenlose Selbstüberschätzung des Menschen:
Der Fortschrittsglaube sieht im Menschen selbst
den Garanten für eine gelingende Zukunft.

Das biblische Menschen- und Geschichtsbild ist anders!
In der Adventszeit werden wir nicht nur konfrontiert 
mit dem Geschichtsverständnis der alttestamentlichen Propheten,
sondern insgesamt damit, daß die Menschheitsgeschichte ein Ziel hat,
daß sie von der Menschwerdung Gottes 
als einem Höhe- und Wendepunkt her zu interpretieren ist, 
und daß letzendlich Gott selbst der „Herr der Geschichte" ist.

Daraus entsteht in biblischer Sicht 
ein für uns unauflösliches Spannungsverhältnis
zwischen Unheils- und zugleich Heilsgeschichte.

Nehmen Sie als Beispiel die heutige Lesung
aus dem Buch des Propheten Jeremia:
„Seht, es werden Tage kommen..." - Tage des Heils.
Konkret heißt das doch: 
Im Augenblick jedenfalls sind sie noch nicht da - die Tage des Heils.
Oder: „Die Zukunft wird erfüllt sein von „Recht und Gerechtigkeit".
Wie im Kontrast wird aus diesem Hoffnungswort deutlich,
wie ungerecht die gegenwärtigen Verhältnisse sind.
Die Menschen sind hineinverwoben 
in eine Geschichte von Unrecht, Dummheit und Lüge -
wie wir auch.

Ähnlich kontrastbestimmt sind viele andere Prophetenworte,
von denen einige in unserer Krippenszene thematisiert werden.

Woher aber nehmen die Propheten ihre Hoffnung?
Woher kann auch uns Hoffnung kommen? 
Die Propheten werfen einen Blick zurück in die Vergangenheit
um der Zukunft willen.
Sie erinnern an vergangene Verheißungen,
die sich in der Geschichte Israels immer wieder erfüllt haben -
meist allerdings ganz anders, als man es sich zunächst 
gewünscht und vorgestellt hatte.
Vieles wird erst in der Rückschau verständlich und nachvollziehbar.

Insbesondere erinnern nicht nur die Propheten,
sondern auch viele andere biblische Texte immer wieder
an jene Verheißungen, die ihre Erfüllung fanden
in der Befreiung des Gottesvolkes aus dem „Sklavenhaus Ägyptens",
in der Erfahrung des Exodus
und in dem Geschenk des „Landes der Verheißung".
Aus dieser Rückerinnerung schöpfen sie Hoffnung auch für das Heute
und machen damit den enttäuschten Menschen ihrer Zeit Mut.

Dahinter steckt natürlich jene Glaubensüberzeugung,
die Jeremia mit den Worten zum Ausdruck bringt:
„Jahwe ist unsere Gerechtigkeit".
Damit bringt er einen Aspekt in sein Geschichtsverständnis hinein,
das vielen Menschen heute 
und nicht zuletzt auch den Geschichtswissenschaftlern
und denen, die glauben, Geschichte zu gestalten 
- unseren Politikern also -
höchst suspekt ist.

Spätestens seit der französischen Revolution
sehen die Mächtigen unserer Zeit 
die Gestaltung von Geschichte als ihre höchst eigene Aufgabe an.
Es ist sicherlich kein Zufall, 
daß aktuell gerade das laizistische Frankreich
den Gottesbezug in einer europäischen Verfassung blockiert.

Nun ist gewiß die Vorstellung höchst problematisch,
der transzendente Gott greife sozusagen von Fall zu Fall
in den weltimmanenten Geschichtsablauf ein
und korrigiere sozusagen das Handeln der Akteure auf der politischen Bühne.
Biblischem und christlichem Geschichtsverständnis
liegt jedoch die fundamentale Überzeugung zugrunde,
daß es eine völlig profane Welt und damit eine völlig profane Geschichte
gar nicht geben kann.
Vielmehr ist die sogenannte „profane" Welt immer schon
bis in ihre letzten Fasern hinein
durchdrungen von der Heilsgegenwart Gottes.

Diese Heilsgegenwart Gottes ist immer und überall in der Welt gegeben -
unabhängig davon, ob sie von Menschen erkannt oder anerkannt wird.
Dort aber, wo sie von Menschen in Freiheit angenommen wird,
lebt sie als Annahme Gottes selbst
und konstituiert damit Heilsgeschichte.
Es geht also nicht um eine völlig neue und andere Geschichte,
die sozusagen „von oben" zur Profangeschichte hinzukäme;
es geht nicht um das Wirken eines „deus ex machina" in die Profangeschichte hinein.
Es geht vielmehr darum, daß Menschen sich in ihrer Freiheit
für Gottes Gnade öffnen, sie annehmen,
und daraus geschichtlich wirksame Entscheidungen treffen.

Sicherlich bleibt das Handeln Gottes auf diese Weise strittig,
und erst mit der Vollendung der ganzen Schöpfung
wird Gott endgültig als der Herr der Welt offenbar werden.
Heilsgeschichte ist ein kommunikatives Geschehen zwischen Gott und Mensch.
Daraus folgt, daß sie im Verlauf der endlichen Geschichte dieser Welt
unentwirrbar mit der Unheilsgeschichte der Menschen verknüpft ist.

Aus dieser Verknüpfung resultiert gerade im Advent
die brenende Erwartung, die inständige Ausschau
und der unüberhörbare Sehnsuchtsruf 
nach einer Veränderung der Weltverhältnisse. 
Die drängende Frage des Advent ist nicht:
Warum gibt es das Böse in dieser Welt?
Die Frage lautet vielmehr:
Wielange noch?

Auf diesem Hintergrund wäre es ein Verrat 
am heilsgeschichtlichen Wirken Gottes,
und damit ein Verrat an unserem Glauben,
wenn wir uns einschläfern und einlullen ließen
durch „Rausch, Trunkenheit und die Sorgen des Alltags".
Daher rührt vielmehr - wie das Evangelium sagt - die „Verwirrung" unserer Zeit.

Statt dessen ist adventliche Spannung angesagt:
Aufmerksamkeit, Gebet, Wachsamkeit, Sehnsucht.
Es geht darum, die befristete Zeit 
innerweltlicher Geschichte zu nutzen,
einzugehen auf Gottes Erwartungen an seine Kirche
und an jeden einzelnen Christenmenschen.

Amen.