Predigt zum 1. Adventssonntag (A) 
am 2. Dezember 2001
Zu den Schrifttexten des Sonntags: Jes. 2, 1-5; Röm. 13, 11-14; Mt. 24, 37-44.
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Advent - diese vorweihnachtliche Zeit weckt Träume:
Kindheitsträume, Konsumträume, überhaupt Wunschträume.
Vieles davon dürfte Illusion sein.

Als Illusion erscheint uns auch der Traum des Jesaja,
der in der Lesung heute am Anfang der Adventszeit steht:
Pflugscharen statt Schwerter,
Winzermesser statt Lanzen. 
Die Realität ist der „Streit der Völker":
Palästinenser und Israelis,
die Völker Afghanistans und die Völker des Westens.

Und doch geht es in der heutigen Lesung um Realität!
Jesaja ist alles andere als ein illusorischer Träumer.
Gewiß zeichnet er ein Bild der Zukunft:
Die Utopie einer friedlichen Welt.
Aber für ihn ist dies „reale Utopie":
Nicht wir werden diesen Frieden schaffen
- das wäre fürwahr Illusion! -
vielmehr wird Gott selbst dieser Welt seinen Frieden schenken.
Er spricht Recht im Streit der Völker,
er weist viele Nationen zurecht.
An uns ist es, uns endlich auf den Weg zu machen:
auf den Weg in ein Land des Friedens,
auf den Weg zum „Berg des Herrn",
der nach einem alten mythischen Bild
„der höchste aller Berge" ist.

An uns ist es, endlich die Illusion aufzugeben,
wir könnten diesen Berg, der alle anderen Berge überrragt, selbst „bauen":
den „Turm von Babylon" oder auch das World Trade Center von New York. 
Uns scheint nichts mehr unerreichbar,
was auch immer wie uns vornehmen (Gen. 11,4):
Selbst den „neuen Menschen" glauben wir schaffen zu können
durch das Klonen von Embryonen,
durch die Manipulation von embryonalen Stammzellen.
Aber von unserer Technik bleiben in der Regel nur Ruinen.
Unerschüttert steht einzig und allein Gottes Berg.
Er allein schafft das Land des Friedens.
Er allein zeigt uns den Weg dorthin.
Entsprechend Seinem Schöpfungsauftrag
sollen wir uns die Erde untertan machen -
mit Pflugscharen und Winzermessern,
anstatt uns immer wieder andere Menschen und Völker untertan zu machen -
mit Schwertern und Lanzen.

Er schenkt uns in Jesus Christus den Menschen des Friedens,
den Immanuel, in dem Sein Friede bereits real in unserer Mitte wohnt.
Uns an IHM neu zu orientieren,
IHM nachzufolgen und Seinen Weg des Friedens mit IHM zu gehen,
das ist die Herausforderung des Advent.

„Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf!...
Darum laßt uns ablegen die Werke der Finsternis
und anlegen die Waffen des Lichts!"
Paulus wird da ganz konkret:
Laßt uns leben frei von aller Gier 
- von Habgier, Konsumgier, Machtgier -
frei von all dieser Gier, 
die immer wieder zur Quelle von Eifersucht und Streit,
von Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung wird -
nicht nur unter Völkern, Stämmen und Rassen,
ja sogar unter Religionen, 
sondern ebenso unter Eheleuten und in den Familien,
unter Berufskollegen und in den Betrieben,
unter Freunden und Nachbarn.

Wir alle essen, trinken und heiraten,
wir befriedigen unsere Bedürfnisse 
ohne Rücksicht auf die Menschen neben uns,
wir fröhnen unserem Egoismus -
so als ob das ewig so weitergehen könnte.
Wer von uns rechnet denn schon real damit,
daß diese Art zu leben, einmal in sich zusammenbrechen muß,
daß uns und auch unserer Wissenschaft und Technik Grenzen gesetzt sind,
und daß der „Menschensohn" als Richter kommen wird -
unerwartet und unberechenbar?
Wer ein tatsächliches Eingreifen Gottes für möglich hält,
wird in seiner Umgebung nicht ernst genommen,
gilt als Phantast, über den die Realität hinweggeht.

Christus sieht die Realität anders:
Er spricht im Evangelium von uns allen,
wie wir unseren täglichen Beschäftigungen nachgehen.
Und doch ist da aus Seiner Sicht ein großer Unterschied:
Wer sich wie Noah bereithält für einen Zusammenbruch des Vertrauten
und wer in all dem, was er tut, jetzt schon auf die Weisung des Herrn achtet, 
der wird „mitgenommen",
d.h. er wird mitgerissen von dem Orkan des neuen Lebens,
mit dem Gott selbst in unseren Alltag einbricht
und uns in Sein Reich der Liebe und des Friedens führt.
Die anderen aber werden „zurückgelassen".
Sie bleiben im Sumpf,
auf dem sogenannten Boden der Wirklichkeit,
der eben nicht das wirkliche Leben ist.

Der Advent ist eine Zeit der Entscheidung:
Wie wollen wir leben?
Was ist für uns „Realität"?
Auf welche Zukunft wollen wir uns einlassen?
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen
nicht eine „gemütliche", noch viel weniger eine „stressige",
sondern eine von Gott gesegnete Zeit des Advent. 

Amen.