Predigt zum 1. Adventssonntag 1999 
Predigt zum Jesaja-Text der Lesung: Jes. 63, 7 - 64, 11; 
(Evangelium: Mk. 13, 24 - 37) 
Autor: P.Heribert Graab S.J.
 Zu Beginn des Advent hören wir in der Lesung 
 eines der beeindruckendsten Klagelieder - 
 zugleich ein Lied überwältigender Sehnsucht. 

 Es wird zunächst erinnert an die ruhmreichen Taten Gottes 
 zum Wohlergehen seines Volkes: 
 An seine große Güte, 
 an seine Liebe und Barmherzigkeit, 
 mit der er selbst sein Volk aus Ägyptens Knechtschaft befreite 
 und es durch seinen Hirten Mose aus den Fluten des Meeres herausführte. 

 Und dann auf dem Hintergrund der vergangenen Segenserfahrungen 
 die erschütternde Klage über Gottes Abwesenheit in der Gegenwart: 
 Wo ist Dein leidenschaftlicher Eifer für Dein Volk geblieben? 
 Warum hältst Du Dich fern? 
 Erst vor kurzem haben unsere Feinde 
 Dein Heiligtum zertreten! 
 Deine heiligen Städte sind zur Wüste geworden, 
 Zion ist eine Wüste, Jerusalem eine Öde. 
 Gewiß, wir haben uns gegen Dich aufgelehnt. 
 Wir sind treulos geworden. 
 Unsere Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid. 
 Warum aber läßt Du zu, 
 daß wir von Deinen Wegen abweichen? 
 Warum machst Du unser Herz hart, 
 so daß wir Dich nicht mehr fürchten? 
 Und dann der Schrei: 
 Du bist doch unser Vater! 
 Abraham will nichts mehr von uns wissen! 
 Israel kennt uns nicht mehr! 
 Aber Du, Herr? Du, unser Vater?! 

 Schließlich der eindringliche Sehnsuchtsruf: 
 Kehre zurück! 
 Reiß doch den Himmel auf, 
 und komm herab, 
 so daß die Berge zittern vor Dir! 
 Komm wie Feuer, das Reisig entzündet! 

 Zu Beginn des Jahres 2000 
 feiern auch wir die herrlichen Taten Gottes 
 an seinem Neuen Bundesvolk: 
 - Wir sind dankbar, daß aus den kleinen Anfängen in Palästina 
 die weltweite Kirche Jesu Christi wurde. 
 - Wir freuen uns über all das, 
 was Gott Gutes durch seine Kirche in dieser Welt gewirkt hat: 
 - Wir freuen uns über den Segen unzähliger caritativer Dienste, 
 die diese Welt menschlicher und wärmer gemacht haben. 
 - Wir freuen uns darüber, 
 daß der Glaube unzähligen Menschen 
 den Sinn des Lebens erschlossen 
 und sie glücklich gemacht hat. 
 - Wir freuen uns über die „Wolke"  
 von großen heiligen und faszinierenden Menschen, 
 in denen sich das Licht des Evangeliums millionenfach spiegelt. 
 - Wir feuen uns über die kulturellen „Highlights" 
 der 2000-jährigen Geschichte des Christentums. 
 - Wir freuen uns darüber, 
 daß die „Pforten der Hölle" die Kirche nicht überwinden konnten - 
 allen inneren und äußeren Widernissen zum Trotz. 
 Wir freuen uns und loben und preisen Gott 
 gerade in dem vor uns liegenden „Heiligen Jahr". 

 Zugleich aber kann dieser Lobpreis der herrlichen Taten Gottes 
 nicht das Elend der Kirche 
 und die Klage über deren Niedergang, 
 sowie über die „Verdunstung" des Glaubens verdecken. 
 Wir beklagen das Versagen unserer Kirche 
 durch die Jahrhunderte hindurch: 
 - Wir beklagen die vielen faulen Kompromisse mit der weltlichen Macht. 
 - Wir beklagen das Mordbrennen der Inquisition 
 und die furchtbaren Menschenrechtsverletzungen der Hexenprozesse. 
 - wir beklagen die Judenpogrome in vielen Jahrhunderten, 
 die sich im Namen der Kirche abspielten. 
 - Wir beklagen zumal deren Aufgipfelung im Holocaust, 
 an dem Christen und ihre Kirchen nicht unschuldig waren. 
 Klagen wir auch uns an, wie Jesaja es zu seiner Zeit tat??? 

 In diesen Wochen und Monaten sind wir zutiefst bewegt  
 von dem unseligen und wenig christlichen Streit 
 um die Schwangerenkonfliktberatung. 
 Dem Evangelium zum Trotz 
 geht es dabei mehr um Prinzipien als um Menschen. 

 Wir haben allen Grund zur Klage darüber, 
 - daß Christen immer wieder Krieg geführt haben - 
 auch mit dem Segen der Kirche. 
 - daß Christen auch heute Blut vergießen in vielen Teilen der Welt, 
 weil ihr Nationalismus stärker ist als ihr Glaube. 

 Wir klagen über die sturzflutartig wachsende Säkularisierung 
 des sogenannten „christlichen Abendlandes": 
 - Wir klagen über die leerer werdenden Kirchen. 
 - Wir klagen über die eigenen Kinder, 
 denen wir den Glauben nicht mehr vermitteln konnten 

 Wir klagen über unsere Arbeitslosigkeit 
 und verteidigen doch mit Zähnen und Klauen das Recht des Eigentums, 
 selbst Eigentümer damit Monopoly spielen (cf. Holzmann, Mannesmann). 

 Wann endlich klagen wir über uns selbst? 
 Gelten die zugespitzten Worte des Propheten 
 nicht weitgehend auch uns: 
 „Niemand ruft Deinen Namen an, 
 keiner rafft sich dazu auf, 
 festzuhalten an Dir!" 

 Auf diesem Hintergrund stellt uns der Advent 
 vor die Frage nach unserer Sehnsucht und nach unserer Hoffnung: 
 Viele von uns haben aufgegeben, 
 haben nicht nur ihren Austritt aus der Kirche erklärt, 
 sondern auch ihren Glauben verloren. 
 Genau genommen, macht sich in der Kirche selbst 
 jene Art von Atheismus breit, 
 die Jesaja meint: 
 „Uns geht es, als wärest Du nie unser Herr gewesen, 
 als wären wir nicht nach Deinem Namen benannt." („Christen"). 

 Advent ist ein eindringlicher Aufruf zur Umkehr - 
 sozusagen 5 vor 12: 
 „Herr, zürne uns doch nicht allzu sehr, 
 denk nicht für immer an unsere Schuld!" 
 „Du bist doch, Herr, unser Vater. 
 Wir sind der Ton, und Du bist der Töpfer, 
 wir alle sind das Werk Deiner Hände." 
 Kehre zurück um unseretwillen, 
 die Du durch Deine Menschwerdung 
 und durch Deinen Tod am Kreuz erkauft hast. 
 „Reiß doch die Himmel auf und komm herab. 
 Komm wie ein Feuer, das Reisig entzündet." 
 Entzünde auch uns, 
 die wir in der Gewohnheit und auch durch Wohlstand 
 schläfrig geworden sind. 

 Laß uns die Mahnung des Evangeliums 
 zur Wachsamkeit hören 
 und laß sie tief in uns eindringen. 
 Mach uns ensibel für die Zeichen des Aufbruchs 
 in Deiner Kirche - 
 auch an der Wende zum dritten Jahrtausend. 
 Laß uns wachsen im Glauben, in der Hoffnung, in der Liebe. 
 Mach uns bereit für Deine Ankunft - 
 hier und heute. 

 Amen.