Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis (C)
am 30. Oktober 2010
Lesung: Weish. 11, 22 - 12, 2
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Einige Anregungen von Prof. Hans-Helmut Eßer: "Barmherzigkeit" in "Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament", Wuppertal 1972, Bd. 1
Du liebst alles, was ist.
Du schonst alles.
Du hast mit allem Erbarmen.

Barmherzigkeit gehört nicht zu den Tugenden,
die in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben.
Barmherzigkeit ist eher etwas für “Weicheier”,
für “Schwächlinge” also.
Genau betrachtet steckt in diesem Spott
sogar ein wahrer Kern:
Wahrscheinlich können nur diejenigen wirklich barmherzig sein,
die am eigenen Leib Schwäche oder gar Hilflosigkeit erfahren haben.
Gerade wenn’s uns gut geht, wenn wir fit sind,
fehlt uns häufig das Einfühlungsvermögen
für Kranke, Schwache und Gebrechliche.

Nun behauptet die Weisheitslesung dieses Sonntags
im Blick auf Gott genau das Gegenteil:
“Du hast mit allen Erbarmen, weil Du alles vermagst!” -
also weil Du stark bist, weil Du der Allmächtige bist.

Nach unserem Verständnis braucht vor allem Gerechtigkeit
Stärke und Macht, um sich in dieser Welt durchzusetzen.
Und angesichts weltweiter Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt,
angesichts erschütternder Ungerechtigkeit
sehnen wir uns nach Frieden und Gerechtigkeit -
mehr als nach irgendetwas sonst.

Allerdings kann man wohl nicht sagen,
es gebe so etwas wie eine Tugend-Konkurrenz
zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.
Vielmehr gerät die Barmherzigkeit
gegenüber der Gerechtigkeit total in Hintertreffen.
Wenn sie denn überhaupt in Erwägung gezogen wird,
dann allenfalls als “Sahnehäubchen” obendrauf.

Das biblische Verständnis von Barmherzigkeit
ist wesentlich weiter gefaßt
als unser caritatives Wahrnehmen, Fühlen und Dienen.
Die Bibel versteht Gottes Barmherzigkeit
von Seiner Bündnistreue her:
Schon die Erwählung Seines Volkes
ist Ausfluß Seiner Barmherzigkeit;
erst recht dann die Treue, mit der Gott zu Seinem Volk hält -
aller Untreue, Auflehnung und Verrat dieses Volkes zum Trotz.
Ein wesentlicher Aspekt der Barmherzigkeit Gottes
ist Seine Solidarität, mit der Er selbst über die Sünden
des Einzelnen, des ganzen Volkes und der Menschheit hinwegsieht.
Dabei bagatellisiert Er die Schuld keineswegs.
Vielmehr geht es Ihm in großer Geduld um Einsicht und Bekehrung,
und darum, daß die Menschen sich
von ihrer Schlechtigkeit abwenden.
Gott ist barmherzig in Seiner Vergebung von Schuld.
Zugleich ist Er aber auch barmherzig in Seinem “Zorn”.

Triebfeder dieser göttlichen Barmherzigkeit ist gewiß die Liebe;
aber zugleich ist diese Barmherzigkeit
auch Auswirkung einer Rechtsbindung,
in die Gott selbst sich hineinbegeben hat
durch Seinen “Bund” mit dem Volk.
Gottes Barmherzigkeit steht also
nicht im Widerspruch zu Seiner Gerechtigkeit,
sondern ist eigentlich deren Erfüllung.

Schon nach dem Ersten Testament gilt Gottes Barmherzigkeit
nicht nur “Seinem” Volk, sondern allen Völkern und allen Menschen.
In Jesus Christus kommt dann diese Universalität
der Barmherzigkeit Gottes voll zum tragen.
In Jesus begegnet Gott dem ganzen Jammer der Menschheit
mit mitleidendem, überwindendem und sieghaften Erbarmen.
Das ist sozusagen die Krönung von Gottes Barmherzigkeit,
daß Er in Kreuz und Tod Jesu
solidarisch wird mit der ganzen Menschheit
in der abgrundtiefen Dunkelheit von Leid und Tod.
In Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi
wird Gottes Barmherzigkeit endgültig und unwiderrufbar besiegelt.

Die Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus setzt auch
für das Miteinander von Menschen in dieser Welt neue Maßstäbe.
Danach orientiert sich die Zuwendung des einen zum anderen
nicht mehr am eigenen Vorteil,
nicht an der Würde des Anderen oder an seiner Möglichkeit,
sich zu revanchieren.
Es geht ausschließlich um die Situation des Anderen.
Es geht um die ganzheitliche Hinwendung zu denjenigen,
die jeweils auf Erbarmen und Solidarität angewiesen sind.

Jesus selbst konkretisiert
diesen Anspruch des Erbarmens mit den Notleidenden
in Seiner Endzeitrede.
Dort spricht Er beispielhaft von sechs Werken der Barmherzigkeit:
   1. Hungrige speisen,
   2. Durstige tränken,
   3. Fremde beherbergen,
   4. Nackte kleiden,
   5. Kranke pflegen,
   6. Gefangene besuchen.

Am Beispiel der Krankenpflege
möchte ich noch einmal verdeutlichen,
was Barmherzigkeit ist:
Im Sinne Jesu geht es dabei nicht nur um medizinische Pflege,
sondern vor allem um menschliche Zuwendung.
So haben die “Barmherzigen Schwestern”
und viele andere Krankenpflegeorden ihren Dienst verstanden.
Und genau da haben wir heute ein Defizit!

Wie Gottes Barmherzigkeit auch eine rechtliche Dimension hat,
so auch menschliche Barmherzigkeit:
Sie gründet in der gottgeschenkten Würde des Menschen.
Und der werde ich natürlich längst nicht gerecht,
wenn ich einen Kranken medizinisch perfekt versorge
und ihn mit der Stoppuhr in der Hand “pflege”.
Ohne meine persönliche Zuwendung,
ohne eine gewisse Zeit auch des Zuhörens
und des Eingehens auf die persönliche Situation des Kranken
werde ich seiner menschlichen Würde nicht gerecht.

Es liegt auf der Hand, daß unser Gesundheitssystem
diesem Anspruch in keiner Weise gerecht wird.
Positiv daran ist allerdings die Ehrlichkeit,
mit der das Wort von der Barmherzigkeit
aus dem Sprachschatz der Gesundheitsfürsorge ausgemerzt wurde.

Erinnern wir uns abschließend noch einmal der Gerichtsrede Jesu:
Das Erbarmen Gottes weiterzugeben
an die auf unser Erbarmen Angewiesenen -
das und nichts sonst wird Maßstab des Weltenrichters sein,
wenn die Erbärmlichen und der Erbarmer
einander endgültig gegenüberstehen.

Amen.