Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (C)
Evangelium:  Lk. 18, 9 - 14
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Wohl zu allen Zeiten und überall gibt es Menschen,
die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt sind
und andere verachten - so auch heute und hier bei uns.

Heute würde Jesus das Beispiel des Evangeliums
vielleicht so erzählen:

Zwei gläubige Menschen gingen jeweils
in das Gebetshaus ihrer Gemeinde,
um zu beten und Gottesdienst zu feiern.
Der eine war ein Christ
und besuchte am Sonntag seine Kirche.
Der andere war ein Muslim
und verrichtete an einem Freitag sein Gebet.

Der Christ betete in seinem Herzen:
Gott, ich danke Dir, daß ich nicht so bin
wie diese Fundamentalisten und Terroristen;
wie jener Muslim zum Beispiel,
der hier in unserer christlich geprägten Kultur
eigentlich nichts zu suchen hat.
Du hast mir einen Glauben geschenkt,
der seit zweitausend Jahren
unsere abendländische Kultur geprägt hat,
der uns jene humanen Werte vermittelt hat,
die auch heute noch - selbst in einer säkularisierten Umwelt -
das gesellschaftliche Zusammenleben
und sogar unsere Gesetzgebung bestimmen.
Ich bitte Dich von ganzem Herzen um ein vereintes Europa,
in dem genau diese christlichen Werte hochgehalten werden.

Auch der gläubige Muslim betete zum einen, wahren Gott.
Er jedoch sprach sein Gebet in einer sehr bescheidenen
und vom öffentlichen Leben abgeschiedenen Moschee.
Genau genommen war das gar keine Moschee,
sondern eine durch „Just-in-time-Produktion“
überflüssig gewordene alte Lagerhalle,
die er gemeinsam mit Freunden liebevoll
zum Gebetsraum hergerichtet hatte.

Der Muslim betete:
Allmächtiger, aus der Fremde rufe ich zu Dir.
Es geschieht viel Unrecht in dieser Welt -
Haß, Gewalt und Terror verbreiten Angst unter den Menschen.
In Deinem Namen und im Namen des Islam
verbreiten auch Fanatiker meiner Religion den Schrecken.
Erbarme Dich, Allgütiger!
Erbarme Dich auch meiner,
der ich als Mitschuldiger ausgegrenzt werde,
obwohl ich doch nur in Frieden hier leben und arbeiten möchte.

Jesus schloß seine Erzählung ab, indem er sagte:
„Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück,
der andere nicht.“

Die aktuelle Auseinandersetzung um Muslime in Deutschland,
um deren Integration und um die “jüdisch-christliche Tradition”,
die unsere Werteordnung geprägt habe,
ist im Sinne der Beispielserzählung Jesu
durch und durch pharisäisch.

Schon das Pochen auf eine “jüdisch-christliche Tradition”
ist in erheblichem Maße unwahrhaftig:
Gewiß steht Jesus selbst, und gewiß steht Sein Evangelium
in der Tradition des Gottesbundes mit Israel.
Teile des jungen Christentums distanzieren sich jedoch
schon sehr früh von den eigenen jüdischen Wurzeln.
Und seitdem das Christentum zur römischen Staatsreligion wurde,
hat es die Juden und das Judentum ausgegrenzt -
bis hin zu dem Versuch, alles Jüdische zu vernichten,
bis hin zu dem schrecklichen Tiefpunkt
dieser antijüdischen Geschichte unter der Nazi-Herrschaft.

Die Rede von christlicher Tradition
und abendländischer Werteordnung
ist jedoch vor allem unwahrhaftig,
weil da Ansprüche an die Adresse von Muslimen
formuliert werden,
denen wir selbst schon lange nicht mehr gerecht werden.
In dem Maße, in dem unsere Kirchen leerer werden,
geht ja auch die Rückbindung
an das Evangelium Jesu Christi verloren.
Und daran hängt doch letztendlich alles,
was wirklich “christliche Werte” genannt werden kann.
Sogar Werte, die wir als “weltliche” Werte ansehen,
- z.B. die Achtung der Menschenwürde
oder auch ganz schlicht die Kommunikationsfähigkeit
und Nachbarschaftshilfe - scheinen sich auszudünnen
in einer mehr und mehr säkularisierten Gesellschaft.

Anstatt “Sündenböcke” zu suchen
und den Islam pauschal zu diskriminieren,
sollten wir vor unserer eigenen Haustür fegen.
•    Wir sollten uns fragen,
    wie es um unseren eigenen Glauben bestellt ist.
•    Wir sollten uns fragen, ob und wieweit wir uns
    an Jesus Christus und an Seinem Evangelium orientieren.
•    Wir sollten uns fragen, wie glaubwürdig
    wir den christlichen Glauben leben,
    und wieweit der unseren Alltag bestimmt.

Wenn wir wirklich in der Nachfolge Jesu leben würden,
würden wir “mit guten Augen schauen”.
Dann würden wir im Fremden zunächst das Verbindende entdecken.
Dann würden wir das Gute sehen,
das auch unsere Kultur bereichern könnte.

Jesus jedenfalls hatte eine unnachahmliche Art,
den Menschen zu begegnen -
gerade auch den Fremden und Ausgegrenzten.
Denken Sie an den verachteten Zöllner Zachäus,
den Er vom Baum herabholte,
um ihm “in Augenhöhe” zu begegnen. 
Denken Sie an die Kranken und Krüppel in der Gosse,
oder auch an die Aussätzigen, denen jeder aus dem Weg ging.
Er wandte sich ihnen zu und ließ sie alle ganz nah an sich heran.
Wer auch immer in der Umwelt Jesu als “Sünder” galt -
Jesus schenkte ihm Seine vergebende Liebe.

In all Seinen Begegnungen ließ Jesus den Anderen erfahren:
Du bist mir willkommen.
Du bist geliebt.
Gott ist der Vater aller - auch Dein Vater.

Nicht durch Abschottung und Ausgrenzung
lösen wir das Problem einer zunehmenden Konfrontation
zwischen westlicher und islamischer Kultur.
Vielmehr wird es uns nur durch die Begegnung
und den Dialog aller Menschen guten Willens gelingen,
jene Kluft zu überwinden, die tief in die Herzen der Menschen
- hier wie dort - eingegraben ist:
•    durch eine vielfach belastete Geschichte,
    (denken Sie nur an die Kreuzzüge oder an „die Türken vor Wien“)
•    durch westlichen Imperialismus und Kolonialismus,
•    durch Fundamentalismus und Terrorismus
•    und nicht zuletzt durch Unkenntnis und Mißverständnisse
    auf beiden Seiten.

Papst Johannes Paul II
hat beim ersten Gebetstreffen in Assisi (1986) gesagt:
“Durch den interreligiösen Dialog geben wir Gott Raum,
in unserer Mitte gegenwärtig zu sein.
In dem Maße, wie wir uns gegenseitig im Dialog öffnen,
öffnen wir uns für Gott.”

So ist Jesu Geist und Sendung am Werk,
wenn Christinnen und Christen, Juden und Muslime
der Logik der Gewalt und Vergeltung entgegentreten
und den Gott bezeugen, der Leben und Zukunft für alle will.

Eine glaubwürdige Kirche Jesu Christi
ist Zeichen der Einheit und der Versöhnung
unter Völkern, Kulturen und Religionen der Einen Welt.
In dieser Überzeugung öffnet sie auch im eigenen Haus
immer mehr Räume der Begegnung, des Dialogs und der Ökumene.
Sie betet jeden Tag um die Herabkunft des Geistes Jesu.
Denn Gottes Geist macht
gegenseitiges Verstehen und Frieden möglich.
Durch Begegnung und Dialog im Sinne Jesu
können auch wir zu Brückenbauern und Wegbereitern
in einer Welt des Hasses und der Unversöhnlichkeit werden.

Viele Jahre war ich selbst in Göttingen
an Begegnungen und Gesprächen
des „Runden Tisches der Religionen Abrahams“ beteiligt.
In Abraham sehen Juden, Christen und Muslime
den gemeinsamen Vater ihres Glaubens.
Gespräche unter diesen zerstrittenen Geschwistern
sind gewiß nicht leicht.
Aber so mühsam sie auch manchmal sind,
sie öffnen nach und nach die Augen
für die Sichtweise des jeweils anderen.
Sie bereiten - wenn auch in ganz kleinen Schritten -
Wege der Verständigung und damit des Friedens
in unserer Gesellschaft und in der Welt.

Diese Gespräche beim „Runden Tisch“ in Göttingen
kamen selbst nach dem 11. September nicht zum Erliegen.
Es ist uns vielmehr gelungen,
auch nach diesem schlimmen Datum
gemeinsam zu Gebeten um den Frieden einzuladen.

Solche Begegnungen, Gespräche und gemeinsame Aktivitäten
gibt es Gott-sei-Dank sogar in den aktuellen Krisenregionen -
auch in Israel und in Palästina.
Daß die Medien darüber kaum je berichten,
wirft leider nicht das beste Licht auf sie.

Um so wichtiger ist, daß wir selbst
- jeweils nach unseren Möglichkeiten -
•    uns angemessen und differenziert informieren,
•    eigene Vorurteile und Vorurteile bei anderen abbauen,
•    Kontakte pflegen zu Muslimen in unserer Nachbarschaft,
•    miteinander ins Gespräch kommen
•    und einen Beitrag leisten zu einem konstruktiv friedlichen Miteinander.

Amen.