Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis (B) 
am 7. November 2021
Lesung: 1.Kön. 17, 10 - 16
Evangelium: Mk. 12, 38 - 44
Autor: P.Heribert Graab S.J.
Diese Predigt greift großenteils auf Gedanken von Papst Franziskus zurück aus seiner Botschaft zum Welttag der Armen am 14. November 2021.
Zu Beginn eine Erkenntnis, die uns nicht leicht fällt:
Wir alle hier und auch ich selbst -
wir gehören zu den Wohlhabenden unserer Zeit!
Daran ändert auch nichts das „Armutsgelübde“,
das viele von uns als Mitglieder einer Ordensgemeinschaft
abgelegt haben!

Als Wohlhabender zu Wohlhabenden über Armut zu sprechen -
wie soll das möglich sein?!
Und doch wissen gerade wir uns als Ordensleute berufen,
das Evangelium Jesu Christi zu verkünden und vor allem zu leben!
Doch im Evangelium und in der Heiligen Schrift insgesamt
stehen die Armen und deren Armut ganz und gar im Vordergrund.
Und die Kirche konfrontiert uns gerade jetzt im Spätherbst
mit diesem Kernanliegen Jesu,
wo’s auf das Ende des Kirchenjahres zugeht;
wo wir unserer Toten gedenken
und damit auch das Ende unseres eigenen Lebens,
ja sogar das Ende dieser Weltzeit überhaupt in den Blick gerät.
Da stellt sich uns bedrängend die Frage:
Was hat Bestand über das „Ende“ hinaus?

Als Antwort auf diese Frage erzählt uns die biblische Lesung
die Geschichte der Witwe von Sarepta:
Wider alle Logik der Selbsterhaltung
ist die verwitwete Mutter bereit,
das Nichts zu teilen, das sie für sich und ihr unmündiges Kind noch hat.
Wie verrückt muß jemand sein!
Auch die Speisungswunder Jesu setzen darauf,
daß Menschen bereit sind,
das Bißchen zu teilen, das ihnen geblieben ist.
Erinnern Sie sich an jenen Jungen,
von dem wir kürzlich noch im Evangelium gehört haben:
Der teilt in der Wüste seine eigene Tagesration von Brot und Fisch
und setzt so das ‚Wunder‘ der Brotvermehrung in Gang.
Ganz viele folgen seinem Beispiel und teilen wie er, was sie haben.
Und schließlich bleiben sogar zwölf Körbe übrig!

Wie auch der Mehltopf der Witwe nicht leer wurde,
und ihr Ölkrug nicht versiegte!
 
In solchen Geschichten wird der Reichtum,
ja der Überfluß der Liebe Gottes in Jesus Christus sichtbar,
der nicht nur etwas verschenkt und teilt,
sondern schließlich am Kreuz Sein Leben, also sich selbst hingibt.
„Hochherzigkeit“ heißt auch für uns:
Nicht nur etwas herzugeben von dem, was ich habe,
sondern alles: auch meine Kraft, meine Zeit, mein Leben.
Jesus konnte sagen: Ich habe euch das Beispiel gegeben.

In genau diese Richtung zielt auch das Evangelium heute:
Die arme Witwe, die Jesus beim Opferkasten im Tempel beobachtet,
hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt!

In wenigen Tagen feiern wir das Fest des hl. Martin:
Er hat diesem frierenden Bettler vor dem Stadttor von Amiens
nicht ein paar Münzen in einen Pappbecher geworfen;
er hat vielmehr erkannt,
was allein in dieser Situation eine wirkliche Hilfe sein konnte:
Er teilte einfach seinen Mantel mit dem Schwert mitten durch
und gab eine Hälfte dem Bettler.
Nur die konnte den Armen in dieser Nacht
vor dem Erfrierungstod retten!

All diesen Menschen -
der Witwe von Sarepta, der Witwe des Evangeliums,
dem Jungen, der sein Brot und seine Fische hergibt,
und auch dem hl.Martin und vielen anderen
gilt die Seligpreisung Jesu:
„Selig, die arm sind vor Gott;
denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Mt. 5.3)

Dieser Seligpreisung entspricht die Forderung Jesu im Lukasevangelium:
„Verkauft eure Habe, und gebt den Erlös den Armen!
Macht euch Geldbeutel, die nicht zerreißen.
Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt,
droben im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frißt.
Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. (Lk. 12:33-34) 

Ganz aktuell hat Papst Franziskus eine Botschaft geschrieben
zum Welttag der Armen am 14. November.
Darin heißt es:
„Wir sind aufgerufen, Christus in den Armen zu entdecken,
uns zu Wortführern ihrer Interessen zu machen,
aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören, sie zu verstehen…
Unser Einsatz besteht nicht ausschließlich in Taten
oder in Förderungs- und Hilfsprogrammen;
was der Heilige Geist in Gang setzt,
ist nicht ein übertriebener Aktivismus,
sondern vor allem eine aufmerksame Zuwendung zum anderen.“

„Die Armen sind keine „Außenstehenden“…
sie sind vielmehr Brüder und Schwestern,
deren Leid geteilt werden muß…“
Nicht wohltätige Gesten lassen Geschwisterlichkeit wachsen,
sondern nur das Teilen.
Ein Almosen ist etwas Gelegentliches;
Teilen ist dagegen dauerhaft.
Nur das Teilen stärkt die Solidarität
und schafft die notwendigen Voraussetzungen für Gerechtigkeit.

Wie aber ist es konkret möglich,
Geschwisterlichkeit mit den Armen zu leben?
Franziskus nennt als eine wesentliche Voraussetzung die Erkenntnis:
„Armut ist nicht das Ergebnis des Schicksals“,
sondern „die Folge von Egoismus“.

Darüber hinaus wäre die Erkenntnis wichtig,
daß es auch viele Formen der Armut bei den „Reichen“ gibt.
die nur durch den Reichtum der „Armen“ geheilt werden können.
Denn niemand ist so arm,
daß er nicht auch etwas von sich selbst geben könnte.
Die Armen dürfen nicht nur Empfangende sein!
Aber wie können und sollen wir uns von den Armen beschenken lassen,
wenn wir sie nicht einmal von Mensch zu Mensch kennen?
Wir müssen also Wege finden,
einander wirklich und auf Augenhöhe zu begegnen
und uns so persönlich kennenzulernen.
Dies vorausgesetzt, könnten wir in vielen Situationen
von den Armen Solidarität und auch das Teilen lernen.

„Den Armen können wir aber vor allem dort begegnen, wo sie sind.
Wir dürfen nicht darauf warten, daß sie an unsere Tür klopfen;
es ist dringend notwendig, daß wir sie in ihren Häusern erreichen,
in Krankenhäusern und Pflegeheimen, auf der Straße
und in den dunklen Winkeln, wo sie sich manchmal verstecken,
in Notunterkünften und Aufnahmezentren ...“.

Es geht also nicht darum, unser Gewissen zu beruhigen,
indem wir Almosen geben;
es geht vielmehr darum, der Kultur der Gleichgültigkeit
und Ungerechtigkeit gegenüber den Armen etwas entgegenzusetzen.

Als gläubigen Christen sollte uns zudem immer wieder bewußt machen:
Die Armen sind wie wir Abbilder des Vaters im Himmel.
Darin ist ihre unverlierbare Würde als Menschen begründet.
In jedem von ihnen begegnet uns Jesus Christus selbst.
Man kann sogar zutreffend sagen:
Jeder Arme ist ein Sakrament Christi.

Amen.