![]() Nach Orten der Gottesbegegnung suchen Christian Herwartz SJ Kreuzberg ist ein Stadtteil Berlins. Wegen seines Nachtlebens ist Kreuzberg ein anziehender, aber auch ein gefürchteter Ort. Hier leben Menschen aus den verschiedensten Nationen. Viele sind ohne Aufenthaltsberechtigung, also ohne gültige Papiere. Drogenabhängige und obdachlose Menschen sind genausowenig zu übersehen wie die vielen Polizisten, die nach untergetauchten Menschen suchen. Aber auch für Künstler ist Kreuzberg ein anziehender Stadtteil, der Anfang des 20. Jahrhunderts zu den dichtbesiedeltesten Gebieten Europas gehörte. Und Kreuzberg ist immer noch ein urbaner Dschungel, ein buntes turbulentes Armenhaus. Seit über zwanzig Jahren wohnen wir Jesuiten mit einer
kleinen
Kommunität an diesem Ort. Wir sind Arbeiter in der Industrie
geworden und haben
Kontakt
zu verschiedenen Gruppen in der Stadt gesucht: Vorrangig zu Menschen,
die nicht zu der in der Politik und der Kultur tonangebenden
Gesellschaft
gehören, also zu Gefangenen, Obdachlosen, Drogenabhängigen.
Mit
einigen von ihnen leben wir in einer Mietwohnung aus dem 19.
Jahrhundert
zusammen. In dieser Wohngemeinschaft sind Menschen aus vielen Kulturen
zuhause. Alle waren in einer Notlage, als sie anklopften und
Unterschlupf
suchten. Wenn sie Gastfreundschaft erfahren, wird ihre Würde
langsam
sichtbar, versteckt hinter vielen Schwierigkeiten, mit denen sie
ringen. Für uns Jesuiten
und auch für andere Besucher werden diese Menschen zu Lehrerinnen
und Lehrer der Menschwerdung: wir werden mit unseren Stärken und
Schwächen
angenommen und zum Leben jenseits aller Konkurrenz ermutigt. Unsere
Lehrerinnen
und Lehrer sind Menschen, die oft unter Unrecht leiden und die von der
herrschenden Gesellschaft ausgegrenzt werden. In der Begegnung mit ihnen, entdecken wir die menschenverachtenden Vorurteile gegenüber anderen Kulturen und Religionen, die wir nicht nur in der Gesellschaft beim Verhalten von anderen und in den Texten staatlicher Gesetze bemerken, sondern die wir selbst in uns tragen. Die Frage, wie liebt Gott diese uns zuerst fremden Menschen, wird zum Schlüssel der Begegnung. Gottes Fantasie findet zu jedem Menschen einen eigenen Zugang. Er lädt uns ein, mit ihm diesen Weg zu gehen. Das Annehmen anderer Menschen bringt die Beziehung zu uns selbst in Schwung, wirkt heilend. Oft sind wir zuerst sprachlos und müssen beginnen, neu hinzuhören und zu verstehen. Das ist ein kontemplativer Vorgang. Wir erleben auch Prüfungen; sie sind Nachfragen, wie tragfähig unsere Einheit mit Gott gewachsen ist, der uns ja als Hungriger, Durstender, Kranker, Gefangener zu begegnen versucht. Immer wieder wird er in diesen Menschen an den äußersten Rand der Gesellschaft auf den letzten Platz gedrängt. Als Christen lernen wir, auf das Verstummen Gottes in der Mitte unserer geschäftigen Interessen zu hören. Besonders dann möchten wir ihm neu nachgehen und uns mehr in seine Nähe rufen lassen. Wir müssen dazu die "Schuhe" der Mächtigen, der Besserwissenden, des Besserseins ausziehen, um die Einladung in die Einheit und Freude mit Gott und seinen Geschöpfen annehmen zu können. Auch Mose mußte seine Schuhe ausziehen, als er den heiligen Boden betrat, auf dem Gott ihn zum Dienst für sein Volk berufen hat. Jeder Boden wird heilig, wo Gott uns begegnen will. Ob dies in einem unscheinbaren kratzigen Dornbusch oder in einem bettelnden Obdachlosen geschehen soll, können nicht wir entscheiden. Aber was ist schöner, als die Einladung Gottes zum Leben zu bemerken und sie dann auch anzunehmen? Eines Tages klopfte jemand mit der Bitte an unsere Tür,
in unserer
Kommunität seine Exerzitien zu machen. Es gab Bedenken: Keiner von
uns hatte bisher Exerzitien begleitet und in unserer Wohnung war ein
ständiges
Kommen und Gehen. Doch er bestand auf seinem Wunsch. Die Geistlichen
Übungen
in unserer Mitte wurden für ihn zu einer wichtigen Zeit der
Klärung
seines Lebensweges. Andere Exerzitanten machten bei uns ähnliche
Erfahrungen.
Auch für unsere Gemeinschaft waren diese Zeiten fruchtbar. Ganz
unterschiedliche
Wohn- und Lebensorte fanden die Übenden in der Stadt, um an diesen
Plätzen zu meditieren und zu beten. Auf der Suche nach diesen
Orten
lernten sie, auf ihre innere Stimme zu hören und sich leiten zu
lassen.
Jeder Mensch hat an bestimmten Orten Angst. Mancher kann sich einer
Ansammlung
von Drogenabhängigen nur langsam nähern oder muss von Weitem
stehen bleiben. Wenn er dann Luft geholt hat und bleiben kann,
beginnt
das Öffnen und Abstreifen der Schuhe. Er sieht sich den
"Schauplatz"
der Meditation und des Gebetes an, würde Ignatius sagen. Was sucht
er hier? Was erhofft er sich? - Seine Ängste sind weiter da, aber
er wird erstmal ruhiger und ist gespannt, was er sieht und wie er von
Gott
angesprochen wird. Das geschieht immer überraschend. Wenn sich in
seinem Herzen etwas bewegt hat, wird er wiederkommen oder das
Erlebte
- vielleicht an Hand einer biblischen Geschichte - anderswo nochmals
betrachten.
Dann können die Früchte der Meditation reifen. Nicht immer
wird der Meditierende direkt
angesprochen.
Doch auch das ist nicht selten. Eine ältere Frau hat an einem Treffpunkt von Drogenabhängigen ihren Ort der Meditation gefunden und nach einiger Zeit hat sie dort von einem gleichaltrigen einsamen Mann einen Heiratsantrag bekommen. Erst war sie unwillig und ist verärgert weggegangen. Doch als sie nach zwei Tagen den Sinn der Worte entdeckte, wusste sie, dass dieser Mann ein Bote Gottes für sie war, der ihr das Leben in Gemeinschaft mit Gott ausgelegt und dazu eingeladen hatte. Umgehend machte sie sich auf den Weg zu einer Armenküche, um diese Einladung in die Gemeinschaft mit Gott innerlich zu feiern. Viele einengende Ängste waren von ihr gewichen. Ignatius von Loyola beschreibt seine Ur-Exerzitien in Manresa
mit vielen
solchen Erfahrungen. Er kämpfte mit seinen Gewohnheiten, indem er
oft das Entgegengesetzte seiner alten Praxis tat. Nach und nach zog er
seine "Schuhe" aus. Er konnte sich Gott anvertrauen und zu ihm
sprechen.
Die Exerzitien sah er als eine Zeit des Experimentierens, ähnlich
wie die Pilgerreise nach Jerusalem, die Unterrichtung von Kindern auf
der
Straße, die Krankenbesuche und -pflege. In all diesen geistlichen
Zeiten des Entdeckens und Betretens von Heiligem Boden lernte Ignatius
die Solidarität mit den Armen - er war oft selbst von ihnen Als eine Gruppe Menschen ihre Exerzitien in Kreuzberg machen wollte, fragten wir in der Pfarrei nach. Dort steht im Sommer ein Kellerraum leer, in dem im Winter Obdachlose schlafen. Hier kamen auch die Exerzitienteilnehmer unter. Während der 28 Jahre andauernden Teilung Berlins konnten die Gläubigen dieser Gemeinde nicht mehr zu ihrer Kirche auf der anderen Seite der Mauer gehen. So wurde eine Notkirche an der Mauer gebaut. Berlin ist eine wiedervereinigte Stadt. Die beiden Gemeindehälften mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen während der Teilung Berlins konnten bisher nicht wieder zusammenfinden. Auch andere Wunden der Teilung - ebenso die des Krieges und der faschistischen Herrschaft - sind an vielen Orten sichtbar. Neben anderen sind auch diese Orte, die an diese schmerzhafte Geschichte erinnern, für einige der Übenden zu Heiligen Orten geworden. Sie bekamen Zugang zu ihrer eigenen verwundeten Geschichte. Während der gemeinsamen Tage der Geistlichen Übungen sind alle nach dem gemeinsamen Morgengebet und Frühstück auf die lauten und stillen Plätze der Stadt gegangen. Abends nach dem Gottesdienst haben sie sich gegenseitig und die Begleitenden auf die Orte, wo sich etwas in ihren Herzen bewegt hatte, hingewiesen und davon erzählt. Wir schrieben die Namen der Orte auf ein Blatt Papier, das für uns zu einem dicken Buch der Erfahrungen wurde. Ein Beispiel: Eine Frau suchte sich für die Meditation
einen Platz
vor einem Abschiebegefängnis. Sie blieb dort längere Zeit und
vergegenwärtigte
sich die Lebenswege der gefangenen Frauen hinter den Mauern. Aus
unterschiedlichen
Gründen waren sie aus ihren Heimatländern weggegangen. Jetzt
sollen sie des Landes verwiesen werden. In der Zeit der Nazi-Diktatur
mußten
aus Deutschland viele Menschen fliehen. Was haben wir aus dieser
schmerzhaften
Geschichte gelernt? Wie steht es um unsere Gastfreundschaft? Viele
Fragen
sind der Frau durch Kopf und Herz gegangen. Nach einiger Zeit hat sie
die
Passanten vor dem Gefängnis gefragt: Wie geht es euch, wenn ihr
hier
vorbei geht? Als sie die niederschmetternden rassistischen Antworten
hörte,
begann sie sich für die Gefangenen zu schämen und war
erschrocken
über ihre eigene Unwissenheit. Die Abschiebegefangenen kamen in
ihrem
Leben bisher nicht vor und die menschenverachtenden staatlichen
Maßnahmen
wurden von ihr nicht hinterfragt. Nun wünschte sie, Gefangene zu
besuchen. Eine Frau verließ die Haftanstalt, sie ging ihr nach und
sprach
sie
an. Es war eine Seelsorgerin. Sie nannte ihr einige Namen von
Gefangenen,
die sie gleich am nächsten Tag besuchte. Jetzt erlebte sie, wie
die Aufseher mit den Frauen umgingen.
Sie konnte die Gefangenen nur hinter einer Glasscheibe sehen und mit
ihnen
durch einige Luftschlitze sprechen. Sie begegnete einer Mutter, die von
ihrem Mann und ihrem achtjährigen Kind in Berlin getrennt wurde
und
nun abgeschoben werden sollte. Die Mutter sei in Urlaub, wurde dem Kind
ausgerichtet. Ihr Mann wird wohl später in ein anderes Land
ausgewiesen.
Kinder ohne Familie fliegt man oft mit sechzehn Jahren in das Land
ihrer
Geburt aus, auch wenn sie die dortige Landessprache nicht beherrschen.
Die Besucherin steht vor
ihrer Wirklichkeit und der der Gefangenen. Die Frauen können einen
Augenblick miteinander sprechen. Für sie ist es eine Gnade, diese
Gefangene zu besuchen. Sie will am nächsten Tag wieder kommen. Nach dem Besuch setzt sie sich in eine Kirche mit einem großen Kreuz über dem Altar und geht den Anstößen des Besuches im Gebet nach. Da setzt sich ein kleineres Kind mit der älteren Schwester neben sie. Der Junge weist auf die große Christusfigur am Kreuz und sagt: "Der lebt." Die Schwester erklärt die Materialien, mit der die Figur hergestellt ist. Der Kleine lässt nicht locker: "Der lebt." Schließlich wendet er sich an die Frau im Gebet mit der Frage: "Der lebt doch?" Und sie kann mit der Erfahrung dieses Tages antworten: "Ja, er lebt." Die Exerzitien gehen in Begleitung dieser Gefangenen aus einem fernen Lande und dieses Kindes weiter. Ihr Herz ist voll Dankbarkeit geöffnet für den Ruf Gottes. Die drängende Frage ist jetzt, wie kann ich dafür offen bleiben. Vielleicht wird sie der Gefangenen einige Briefe schreiben und nach ihren Exerzitien in Berlin das Gefängnis an ihrem Heimatort suchen. Die Sehnsucht nach dem Wort Gottes hat neu begonnen. Schon jetzt - und besonders in der Zeit nach den Exerzitien - sind aber auch die Schatten der Angst spürbar, dass der innerlich erahnte Lebensweg öffentlich wird. Vielleicht grenzen sie dann ihre alten Freunde aus, ähnlich wie es mit den Gefangenen geschieht. Will sie wirklich über alle gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen hinweg zu einer Pilgerin Gottes werden, auch wenn dies mit Spott und Verachtung einhergeht? Gehen wir nochmals an den Anfang der Geistlichen Übungen zurück. Ignatius von Loyola beginnt auf Grund seines eigenen Experimentierens die Übungen mit einer Fundamentbetrachtung. Er läd ein, für das Leben zu danken, also dazu ja zu sagen, Sohn oder Tochter Gottes zu sein. Jeder Mensch wird bei diesem Einstieg auf andere Erfahrungen zurückgreifen und sein Leben aus dem Glauben mit anderen Namen Gottes in Verbindung bringen. Welche vorsichtig oder plakativ vorgebrachten Aussagen stehen für den einzelnen unerschütterlich fest; will er oder sie dazu nochmals mit der ganzen, oft schmerzhaft erlebten Begrenztheit ja sagen? Nicht nur am Anfang der Übungen sondern am Beginn jeder neuen Etappe gibt es im Exerzitienbuch eine Fundamentbetrachtung: die König-, die Abendmahls- und die Auferstehungsbetrachtung im Hause Marias. Auch für die weiteren geistlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten des Lebens finden wir eine Fundamentbetrachtung im Exerzitienbuch: Die Betrachtung zur Erlangung der Liebe. In diesen Fundamentbetrachtungen werden die Quellen des Lebens schützend eingefasst und damit nutzbar gemacht. Hierher können wir zurückkehren und von hier wieder neu aufbrechen. So macht auch die Betrachtung zur Erlangung der Liebe bereit, weiter zu pilgern, also dem vorausziehenden Gott nachzugehen und ihn dort zu entdecken, wo er auf uns wartet. Für uns Jesuiten in Kreuzberg ist die manuelle Arbeit in
Solidarität
mit unseren Kolleginnen und Kollegen ein besonders wichtiger Ort, diese
Gegenwart Gottes zu entdecken, in der wir die Würde vieler
Menschen
wahrnehmen können. Er ist für uns ein hervorragender Ort des
Lernens, der Demütigung, aber auch des Kampfes. Mitten in allen
Schwierigkeiten
können wir jeweils - auch miteinander - auf das Fundament der
gegenseitigen
Gastfreundschaft" zurückkehren und uns an unsere Grundsehnsucht
nach
einer gerechteren Welt erinnern. Durch Jesus sind wir Eingeladene
Gottes.
Wir dürfen sein Gast sein und können selbst einladen. Unsere
Gäste werden dann oft zu unseren Gastgebern. Die
Emmaus-Jünger
erlebten ähnliches mit ihrem Gast, als er ihnen das Brot brach.
Auch
wir entdeckten das Fundament unseres Glaubens jeweils neu, wenn uns
Brot
in staubigen Fabrikhallen von unseren Kollegen oder am
Straßenrand
von heimatlosen Menschen geteilt wurde. In unserem Alltag bemerken wir
viele geistliche Zeiten, die Ignatius Experimente nannte. In allen wird
wie in den Exerzitien das vorbehaltlose Fragen nach dem Willen Gottes
geübt,
das Loslassen von Macht- und Imponiergehabe, also das Armwerden vor
Gott.
Auf diese Fülle des Lebens können uns ausgegrenzte,
mangelleidende,
verachtete Menschen auf besondere Weise hungrig machen und wir
dürfen
sie auf dem Weg dorthin begleiten.
Kreuzberg es un barrio de Berlín. A consecuencia
de su vida nocturna Kreuzberg es un atractivo, pero también
temeroso lugar. Aquí viven personas de las más diferentes
naciones. Muchas están sin permiso de residencia, por
consiguiente sin papeles. Drogodependientes y personas sin techo son
tan poco abarcables de una ojeada como los muchos policías que
buscan a personas escondidas. Pero también Kreuzberg es un
barrio atractivo para los artistas, que al principio del siglo XX
formaba parte de uno de los lugares más densamente poblados de
Europa. Y Kreuzberg es también una jungla urbana, un policromo y
turbulento asilo. |